Bücher führen zu Büchern – jeder fleissige Leser kennt das Phänomen. So hat mich die Beschäftigung mit Thomas Jeffersons architektonischem Zeitvertreib zu Palladios Vier Büchern zur Architektur geführt, und so hat mich Palladio … nein, falsch.
Zwar ist es richtig, dass Palladio den Architekten und Ingenieur Marcus Vitruvius Pollio aus dem ersten Jahrhundert v.u.Z. gekannt und ins Detail studiert hat, vieles auch von ihm übernommen hat, aber mein Interesse am alten Römer datiert von früher. Vor Jahren habe ich Thornton Wilders Theophilus North zum ersten Mal gelesen – ein Werk voll milder Alters-Ironie. Darin findet sich eine längere Passage über Vitruv. Der Ich-Erzähler erzählt seiner aktuellen Begleiterin ein kurzes Erlebnis von früher:
An einem kalten Tag überquerte ich mit einer alten Dame beim Hotel Taft diese Straße. Ein Wind zerrte Röcke und Hut der Dame in alle Richtungen. Plötzlich sagte sie, was mich sehr überraschte, denn sie war eine gesetzte Professorengattin: »Verdammter Vitruvius!« Ich wußte von Vitruvius nur, daß er im antiken Rom gelebt und ein berühmtes Buch über Architektur und Städteplanung geschrieben hatte. »Warum Vitruvius?« fragte ich. »Wißen Sie denn nicht, dass in Neu-England viele Städte nach seinen Prinzipien angelegt wurden? Baut Eure Städte wie einen großen Bratenrost, studiert die Winde und Gegenwinde und so weiter. Laßt die Stadt atmen, gebt der Stadt Lungen. Paris und London haben sich zu spät auf seinen Rat besonnen. Boston hat seinen Park, aber die Straßen folgen den alten Kuhpfaden.« – Vitruvius‘ Werk bezog sich natürlich auf Italien, wo es ziemlich kalt sein kann, aber nicht so kalt wie in New Haven.
Die alte Dame und der Ich-Erzähler Wilders haben damit Vitruvs Zehn Bücher über Architektur und seine Bedeutung für die Moderne perfekt zusammengefasst. Wie in seiner Folge Palladio gibt auch Vitruv einen Abriss über die ganze Bandbreite seines Berufs. Geschichte des Hausbauwesens (so, wie er sie sich vorstellt, natürlich) ebenso, wie die zu verwendenden Materialien. Vom Bauwesen kommt er tatsächlich zwanglos auf die Städteplanung. Wir dürfen uns aber nicht vorstellen, dass Vitruv sich nun mit den Mietskasernen Roms aus seiner Zeit beschäftigt hätte. Sein Interesse gilt ausschliesslich sakralen und öffentlichen Gebäuden: Tempeln, Foren etc. Da aber bezieht er tatsächlich auch solche Dinge ein, wie die gesunde Luft, die in einer Stadt herrschen soll, oder er beschreibt die Art und Weise, wie ihr Wasser zugeführt werden soll. Das vorletzte, neunte Kapitel verlässt das Bauwesen, um über Astronomie und Uhren zu sprechen. Der Grund der plötzlichen Digression hat sich mir nicht erschlossen; es sei denn, Vitruv hat das getan, um die Zahl 10 seiner Kapitel voll zu bekommen, legte er doch auch bei der Anlage seines Buchs offenbar grossen Wert auf Symmetrie. Das zehnte Buch beschreibt dann das Belagerungswesen – sowohl in Angriff wie in Verteidigung.
Nun habe ich meine von Wilder geweckte Neugier befriedigt. Was mir noch zu tun bleibt, wäre, die im Gefolge Vitruvs (und Palladios) in Neu-England erstellten Gebäude und Städte zu besichtigen. Wer weiss…
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