Wolfram Schöllkopf, Privatdozent für neuere deutsche Literatur und Glaziologie an der Eidgenössischen Technischen Universität Zürich steht erbrechend an der Balustrade im Hauptgebäude seiner Alma Mater. Soeben hat der Dekan seinen Lehrauftrag abgewürgt, gleich wird er einen Herzinfarkt erleiden. Und überhaupt ist er chronisch krank; er leidet an – wie er es selber formuliert – Unterleibsmigräne. Will sagen: Von der Spitze seines Penis aus strahlen heftige Schmerzen durch seinen ganzen Körper. Diese Schmerzen behindern nicht nur sein Sexualleben, sondern auch sein übriges Dasein. Alle Heilversuche der klassischen Schulmedizin haben nicht gefruchtet. Seit längerem versucht Schöllkopf deshalb, in Behandlung einer anonymen und geheimnisvollen Gesellschaft zu kommen, die im Gotthard-Massiv, in alten Stollen des Schweizer Heers, eine Klinik betreibt für Leute wie ihn: Psychosomatiker, deren Leiden nirgends körperlich festgemacht werden kann. Der ganze Roman handelt nun davon, wie Schöllkopf versucht, in diese geheimnisvollen Stollen einzudringen, wie es ihm schliesslich gelingt, wie er dort behandelt wird, und wie er wieder (gesund?) „in die Freiheit“ entlassen wird und in einem Maserati durchs Tessin kurvt. Die Künstliche Mutter ist dabei ein Produkt jener geheimnisvollen Gesellschaft, speziell entworfen für ihn; er ist also einziger Patient für diese Heilmethode, ein Versuchskaninchen.
Burgers erster Roman für Suhrkamp, und – Entschuldigung – er schmeckt auch ein wenig nach Suhrkamp. Sicher, Burgers sprachliche Virtuosität ist nach wie vor vorhanden. Aber mir will scheinen, er wirft hier Perlen vor die Säue. So verzichtet er auf die von ihm sonst so virtuos gehandhabte Form des Rechtfertigungsschreibens; Die Künstliche Mutter ist ohne Adressat in der Ich-Form verfasst. Dazu kommen recht explizite Schilderungen von Sexualakten. Ich bin nicht prüde, und an und für sich stört mich so etwas nicht. Aber Burger gerät in diesem Roman nachgerade in ein sexuelles Delirium, das mit dem eigentlichen Thema, auch wenn Schöllkopfs Krankeit offiziell in seinem Penis angesiedelt ist, wenig zu tun hat. (Wenn ich denn das eigentliche Thema – das Kranksein an der Welt, hier aber ohne die Ausflucht zum Tod – überhaupt richtig erfasst habe.)
Schlimmer noch: Dieser Roman erweckt den Eindruck, dass sich Burger hier literarisch an verschiedenen Institionen und Leuten rächen will. Dies schon zu Beginn, wo Burger, kaum die Namen verschleiernd, einen eigenen Rauswurf aus der ETH Zürich thematisiert und in übelster und kaum kaschierter Weise einer Intrige des Fakultäts-Dekans persönlich zuweist. Noch übler die Invektiven Schöllkopfs gegen seine Mutter, wo Burgers eigener Hass auf seine eigene Mutter wie eine Schlammlawine über den Leser hereinbricht.
Dazu würde ich auch kompositorisch-inhaltlich-thematische Fragezeichen setzen. Zum Beispiel ist der letzte Teil, wo Schöllkopf plötzlich in einem Maserati durchs Tessin fährt, mit dem Rest kaum verbunden. Oder: Warum die Gesellschaft, die jenes geheimnisvolle Sanatorium betreibt, und Schöllkopf zwecks Heilung vollsalbadert, ausgerechnet österreichisch sein muss, warum also eine unterirdisch-österreichische Exklave im Gotthard-Massiv existieren soll, wird nicht erhellt. (Es sei denn, man nimmt die Tatsache, dass Burger auch mal das Wort ‚Kakanien‘ für ‚Österreich‘ verwendet, und dass die Wortschwälle der behandelnden Ärzte, Ärztinnen und Schwestern sehr an ähnliche Ergüsse von Psychoanalytikern erinnern, als Hinweis darauf, dass Burger hier die „Unterwanderung“ der Medizin durch die Psychoanalyse anprangern will – einer Psychoanalyse, die in ihrem Ursprung ja tatsächlich ‚kakanisch‘ ist. Solche Scherze sind Burger zuzutrauen, aber sie machen den Roman nicht interessanter.)
Schade. Die Künstliche Mutter hat mich enttäuscht und sogar ein wenig verärgert. Schilten hat gezeigt, dass Burger es bedeutend besser kann.
1 Reply to “Hermann Burger: Die Künstliche Mutter”