Daneben erhält man auch Einblick in die unterschiedlichen islamischen Strömungen und die mit ihnen verbunden Konflikte. Ähnlich wie im Europa der Religionskriege werden nämlich die wahren Feinde meist innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft ausgemacht: Schiiten und Sunniten haben eine lange Tradition des gegenseitigen Abschlachtens, die orthodoxen (aber was heißt schon „orthodox“ in Glaubensfragen) Wahhabiten missionieren mit saudiarabischen Petrodollars, wobei sich die verschiedenen Gruppen wieder untereinander bekriegen oder sich gegen ihre ursprünglichen Unterstützer (wie etwa die aus der Deobandi-Tradition hervorgegangenen Taliban) wenden.
Die Analysen der islamistischen Bewegungen in den einzelnen arabischen Ländern fördern Hintergründe und Ursachen zutage, von denen während des „arabischen Frühlings“ nur wenig zu hören war. Und sie frischem auch das Wissen um zeitgeschichtliche Ereignisse auf: So etwa den blutigen Bürgerkrieg in Algerien während der 90iger Jahre (nachdem die FIS, eine radikalislamische Partei die Mehrheit zu erhalten drohte, eine im übrigen das demokratische Verständnis konterkarierende Angelegenheit: Wie geht man um mit einem Volk, dessen Mehrheit sich gegen demokratische Meinungsvielfalt und für eine religiöse Diktatur entscheidet), die schon wieder in Vergessenheit geratene Anschlagserie in Ägypten (mit dem Höhepunkt in Luxor) oder die historische Betrachtung der Muslimbruderschaft ebendort. Während man in unseren Tagen diese Organisation mit dem verhafteten Mursi gleichsetzt und eine Partei, die knapp über 50 % bei den Wahlen erhalten hat (Algerien lässt grüßen), kann man hier deren Geschichte über die letzten 80 Jahre nachlesen und auch die Unmöglichkeit konstatieren, eine solche Gruppierung innerhalb eines demokratischen Staates in die politischen Entscheidungen einzubinden. Denn alle Wahlen waren für diese Bruderschaft immer nur eine Möglichkeit, die Macht zu erhalten (die zweite Möglichkeit bestand darin, dass die salafistisch-dschihadistischen Gruppen mit Gewalt die Macht an sich bringen würden), eine „offene Gesellschaft“ nach westlichem Muster wurde stets per se als sündhaft und verurteilenswert angesehen. Die Muslimbrüder betrachteten immer nur den islamischen Staat auf der Grundlage der Scharia als die einzig legitime Regierungsform, was dann das Erstaunen des Westens über den Regierungsstil Mursis relativieren sollte. Die Gruppierung hat aus ihrer antidemokratischen Haltung kein Hehl gemacht.
Das Resumee Kepels fällt im Jahr 1999 aber eindeutig aus: Der Islamismus ist auf fast allen Ebenen gescheitert. Das Unangenehme von Prognosen aller Art ist die Tatsache, dass sie sich auf die Zukunft richten. Und diese ganz unweigerlich Gegenwart und Vergangenheit wird und im Grunde fast jeden, der nicht ausschließlich Triviales von sich gibt, die Unsinnigkeit des Prognostizierten zu erkennen zwingt. So sah Kepel die Hamas am Ende (ihre großen Wahlerfolge sollten erst kommen), ebenso die Muslimbruderschaft in Ägypten (die dann in relativ fairen Wahlen mehr als 50 % erhielten), er betrachtete Khomeinis Staatsislamismus als zum Untergang verurteilt, sah in Mohammad Cha-tami das Ende des Systems gekommen und hielt den Sieg eines konservativen Kandidaten wie Mahmud Ahmadinedschad für wenig wahrscheinlich. Ebenso seine Vermutungen für die Türkei: Während Necmettin Erbakan in seiner kurzen Regierungszeit mit konservativen Reformen noch am laizistischen Militär scheiterte, wurde der Führer einer der Nachfolgeparteien, Recep Tayyip Erdogan, zu einem durchau erfolgreichen Refomer auch in islamistischer Hinsicht. Und spektakuläre Einzelereignisse wie die Anschläge des 11. September sind ohnehin Gift für alle Voraussagen: So etwas ist einfach nicht vorherzusehen, weshalb dieses, den ganzen Islamismus der folgenden Jahre prägende Ereignis für alle Prognosen das ultimative Scheitern bedeutet.
Trotzdem: Das Buch ist hervorragend, die Analysen profund, die Darstellung mehr als gelungen. Der schon von mir monierte Titel entspricht in keiner Weise dem Schreibstil bzw. der objektiven historischen Aufbereitung, für die Geschichte des islamischen Raumes in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ist dies ein Standardwerk. Und vielleicht ist Kepel – bei großzügigerer Betrachtung – auch mit seiner Prognose nicht ganz falsch gelegen: Denn trotz des Wiedererstarken der islamistischen Ideologie ist längst ihr Erfolg (wie sich in Ägypten gezeigt hat) nicht garantiert. Denn die demokratische Machtergreifung ist für die Bewegung immer nur Vehikel: Allerdings verlieren sie während der Durchsetzung der islamistischen Grundsätze zumeist ihren Halt beim Wählervolk. Und sind somit alsbald den ganz gewöhnlichen Problemen von Diktaturen ausgesetzt. Eines aber kommt in diesem Buch vielleicht zu kurz: Dass es nämlich eine Quadratur des Kreises bedeuten würde, wenn man Demokratie und Freiheit auf der einen, Islamismus (oder einen anderen, beliebigten religiösen Glauben) auf der anderen Seite meint vereinen zu können. Eine solche Vereinigung ist schlicht unmöglich: Entweder die Religion verzichtet (zwangsläufig?) auf die Macht oder aber ihre Vertreter regieren autoritär. Ein freiheitlich-demokratischer Staat auf fundamentalistisch-religiöser Grundlage ist ein viereckiger Kreis.