Johann Gottlieb Fichte: Werke II

Zu Fichtes Zeit musste ein Universitäts-Professor der Philosophie noch alle Bereiche seiner Wissenschaft abdecken – die theoretische Philosophie (Erkenntnislehre, Ontologie) ebenso wie die praktische (Ethik, Rechts- und Staatsphilosophie). Das war ein Erbe von Platons Akademie und Aristoteles‘ Lykeion. So hat denn auch Fichte, noch in seiner Zeit in Jena, 1796 eine Rechtsphilosophie veröffentlicht und 1798 eine Ethik.

Grundlage des Naturrechts

Auffallend an beiden Texten ist, dass Fichte sich sehr darum bemüht, seine praktische Philosophie als natürliche Konsequenz seiner theoretischen darzustellen. Das bewirkt aber leider einen fatalen Rückstoss auf diese seine theoretische Philosophie. Während Fichte sich in der Wissenschaftslehre bemüht, sein Ich als logisch-abstrakte Entität darzustellen, wird nun dieses Ich in der Grundlage des Naturrechts übergangslos als real-natürliche Person aufgefasst. Fichte öffnet damit nicht nur Jean Pauls satirischer Kritik Tür und Tor, er zerstört auch seine Epistemologie. Das Ich, welches das Nicht-Ich setzt und in diesem Setzen eine absolute Verfügungsgewalt (und damit eine absolute Freiheit) demonstriert, sieht sich jetzt plötzlich einem andern Ich gegebenüber, über welches es keine Verfügungsgewalt hat. Demzufolge ist die Freiheit des Ich offenbar eingeschränkt.  Das Ich muss verhandeln, um wenigstens eine auf einen bestimmten Einflussbereich beschränkte Verfügungsgewalt zu haben und somit wenigstens über eine eingeschränkt-absolute Freiheit zu verfügen. (Die Sinnfreiheit dieses Begriffs zeigt schon die Problematik der Fichte’schen Deduktion auf.) Neben Immanuel Kants Werken stehen für Fichtes Rechts- und Staatslehre Jean-Jacques Rousseaus Contrat Social Pate, zusammen mit Leibniz‘ Monade. Rousseau gibt Fichte indirekt zu: Wie Rousseau unterscheidet er die Volonté Générale von der Volonte de tous, den Gemeinwillen als Resultat der Verhandlungen der Ichs von einer reinen Summe der individuellen Ich-Freiheiten. Leibniz hingegen wird verdrängt.

Fichtes Rechtslehre ist in vielem konventionell. Dort, wo sie es nicht ist,  verdankt sie dies in den meisten Fällen dem Versuch, auf Biegen und Brechen seine Rechtslehre mit seiner theoretischen Philosophie in Harmonie zu bringen. (Der Leser wird an ähnliche Versuche Leibniz‘ erinnert, Praxis und Theorie miteinander in Übereinstimmung zu bringen.) Interessant für den heutigen Leser sind allenfalls Auslassungen zum Thema ‚Rechte der Frau‘. Fichte betrachtet zwar die Frau auch immer noch als von Natur aus die Unterwerfung unter den Willen des Mannes suchendes Geschöpf, vertritt dann aber doch die These, dass sie – falls sie aus irgendwelchen Gründen keinen Mann gefunden hat oder denselben durch Tod verloren – durchaus dieselben Rechte in Bezug auf Erbschaft haben soll. Auch das Geschäft des verstorbenen Mannes oder Vaters fortzuführen, soll ihr gutes Recht sein.

Das System der Sittenlehre

Hier finden wir Ähnliches wie in der Grundlage des Naturrechts, und insofern macht es auch Sinn, dass Fritz Medicus 1911 die beiden Schriften in einem Band zusammengefasst hat.

Ähnliches einerseits in Bezug darauf, dass Fichte ein weiteres Mal versucht, seine praktische Philosophie als logische Konsequenz seiner theoretischen darzustellen. Und ein weiteres Mal führt das dazu, dass er seine theoretische völlig zernichtet. Im System der Sittenlehre finden wir nicht nur ein weiteres Mal die andern Ichs – Fichte führt zusätzlich den Begriff der Natur ein. Die Natur, die gemäss seiner theoretischen Philosophie höchstens als ein vom Ich Gesetztes und damit in eben dessen Verfügungsgewalt stehendes Nicht-Ich subsistieren könnte, wird ohne weitere Präliminarien eingeführt als etwas ausserhalb des Ich Stehendes, ja über dem Ich Stehendes. Die Freiheit des Ich wird ein weiteres Mal eingeschränkt: Fichtes Rechtslehre hat sie auf einen bestimmten Wirkungskreis eingeschränkt und die Grenzen verhandelbar gemacht; Fichtes Sittenlehre schränkt sie nun auch ‚gegen innen‘ ein, indem die Freiheit des Ich darin besteht, sich von der eigenen Natur zu befreien.

Damit meint Fichte keineswegs die (katholische!) Askese, gegen die er sich explizit wendet. (Selbst sexuelle Askese befürwortet er nicht, obwohl er Sex nur in der Ehe tolerieren will.) Fichte vertritt de facto eine protestantische Wirkungs-Ethik. Der Mensch soll seine Freiheit und seine Sittlichkeit in seinem Handeln ausdrücken. Austerität und Pflichterfüllung sollen unsere sittlichen Leitsterne sein.

Die Stellung der Frau ist in Fichtes Sittenlehre ähnlich zwiespältig (aus heutiger Sicht) wie in seiner Rechtslehre. Einerseits finden wir wieder die Unterordnung der Frau unter den Mann, und diese wiederum als offenbar etwas Natur- bzw. Gottgegebenes. Aussereheliche Sexualität wird schon beim Mann verdammt, wie aber erst bei der Frau! Andererseits aber soll auch die Frau ihren Willen und ihr Handeln haben. Daraus erst leitet ja Fichte ihre Pflichten ab.

Fazit: Alles in allem eine durchzogene Lektüre. Interessant vor allem dadurch, dass wir hier das preussisch-protestantische Verständnis vom Menschen bzw. vom Staatsbürger in nuce vor uns haben – ein Verständnis, wie es dann in immer pervertierterer Form zuerst Preussen (Fichte würde nun bald an die neu gegründete Berliner Universität ziehen), dann ganz Deutschland bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts prägte.

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