Gebiete urbar zu machen, auf denen bisher nur der Wahnsinn wuchert. Vordringen mit der geschliffenen Axt der Vernunft und ohne rechts noch links zu sehen, um nicht dem Grauen anheim zu fallen, das aus der Tiefe des Urwalds lockt. Aller Boden mußte einmal von der Vernunft urbar gemacht, vom Gestrüpp des Wahnsinns und des Mythos gereinigt werden. Dies soll für den des 19ten Jahrhunderts hier geleistet werden.
Walter Benjamin: Das Passagen-Werk – zitiert nach dem hinteren Buchdeckel
Das war – zumindest zu einem gewissen Zeitpunkt – die Idee, die hinter Benjamins Monster-Werk, den Passagen steckte. Benjamin arbeitete daran von 1927 bis zu seinem Tod 1940. Ich wage sogar zu behaupten, dass seine Arbeit am Passagen-Werk mitverantwortlich ist für seinen Selbstmord. Denn Benjamin verbiss sich zusehends in dieses Werk und war zugleich der Meinung, es nur in Paris, der Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, schreiben zu können. So kam es, dass er sich noch in Europa aufhielt, als alle seine Freunde der Frankfurter Schule bereits in die USA emigriert waren. Zwar schickte er einmal über einen vertrauenswürdigen Boten einen Teil des Materials an Adorno in New York, das meiste jedoch behielt er bei sich in Paris. Erst als die Deutschen praktisch vor den Toren von Paris standen, entschloss sich Benjamin zur Flucht. Er übergab den großen Rest des Manuskripts an Georges Bataille, der es in den Archiven der Bibliothèque nationale versteckte, wo er zu der Zeit arbeitete. (Die letzten Teile wurden erst – durch Zufall – 1981 wieder gefunden.) Spät, fast zu spät, geflüchtet, scheint Benjamin nun aber von Panik erfasst worden zu sein. Als die Gruppe, mit der er unterwegs war, beim ersten Versuch, spanischen Boden zu betreten, zurückgewiesen wurde, sah er nur noch Selbstmord als Ausweg. (Die Gruppe schaffte es beim zweiten Versuch problemlos, die Grenze zu übertreten.)
Der Herausgeber der Suhrkamp-Werkausgabe Benjamins, Rolf Tiedemann, war es, der die heute gültige Form des Passagen-Werks bestimmte. Seit längerem ist es auch als Taschenbuch in der edition suhrkamp, Neue Folge, mit der Nummer es1200, erhältlich. Das Passagen-Werk genießt bei vielen heute Kult-Status. Ich bin überzeugt, dass zumindest mitschuldig daran die schiere Größe dessen ist, was uns Tiedemann zusammengestellt hat. Rund 1050 Seiten Text plus noch einmal rund 300 Seiten Anmerkungen, Literaturverzeichnis etc.
Wer aber in der Ausgabe zu blättern beginnt, wird sehr rasch feststellen: Dieses Werk ist nicht einmal mit den von Tiedemann in seinem Vorwort erwähnten Baumaterialien für ein Haus vergleichbar, von dem nur gerade der Grundriß abgesteckt oder die Baugrube ausgehoben ist. Es ist – mit Ausnahme des einführenden Essays Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts – ganz einfach nur eine Geröllhalde. Benjamin führte verschiedene Kladden, die einem oder ein paar Stichworten zugeordnet waren, und in denen er eigene Gedanken zu den Stichworten notierte (wenige) sowie kommentierte (viele) und unkommentierte (noch mehr) Exzerpte aus seiner Lektüre. Die wiederum war immens. Das Literaturverzeichnis meldet 850 nachgewiesene Quellen. Natürlich hat sich Benjamin hin und wieder, ähnlich wie im Eingangszitat, zu Zweck und Ziel seiner Arbeit geäußert. Aber meiner bescheidenen Meinung nach lässt sich daraus kein definitiver Bauplan ableiten.
Da die Exzerpte in den einzelnen Kladden chronologisch geordnet sind, lässt sich höchstens feststellen, dass der Ausgangspunkt von Benjamins Überlegungen tatsächlich Aragons Der Bauer von Paris war. Schon bald aber warf Benjamin Aragon vor, in der Mythologie stecken geblieben zu sein (was tatsächlich Aragons im Text explizit erklärte Absicht war) und wollte sozusagen einen vom Mythos gereinigten Aragon abliefern (s.o.). Adorno, der Teile des Werks zu lesen bekam, monierte das völlige Fehlen einer marxistischen Grundlage, worauf wir tatsächlich einen Phase in den Exzerpten finden, in der Marx dominiert. Doch Benjamins Verständnis des dialektischen Materialismus, mit dem die Geschichte des 19. Jahrhunderts durchdrungen werden sollte, blieb immer unorthodox.
Einzige Konstante durch all die Jahre ist die Konzentration auf Frankreich, französische Geschichte und Literatur – ja, in den meisten Fällen ist es Paris, worauf sich Benjamin fokussiert. So auch im oben schon erwähnten als Eingang gesetzten Essay über Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhundert.
Dieser Essay besteht auf fünf Teilen, in denen Benjamin versucht, jeweils zwei Entwicklungen mit einander in Verbindung zu bringen, die auf den ersten Blick nichts mit einander zu tun haben. Wir finden:
- I. Fourier oder die Passagen
- II. Daguerre oder die Panoramen
- III. Grandville oder die Weltausstellungen
- IV. Louis-Philippe oder das Interieur
- V. Baudelaire oder die Strassen von Paris
Einige der in diesem Essay geäußerten Gedanken sind durchaus anregend, andere verfolgt man interessiert aber etwas ungläubig. Aber nur schon in diesen Überschriften wird klar, welche Spannweite an Themen Benjamin mit seinem Monumentalwerk abdecken wollte. Ein Scheitern war vorprogrammiert und ich bin überzeugt, selbst wenn Benjamin die Flucht gelungen wäre und er (z.B. in den USA) am Passagen-Werk hätte weiter arbeiten können – er hätte es nie vollenden können.
Fazit: „Lesen“ kann man eine Sammlung von Exzerpten im Grunde genommen ja nicht, aber so eine Sammlung verführt natürlich dazu, sich in verschiedensten Mikro-Interpretationen zu versuchen. Die schiere Menge an Material verlockt andererseits zu einer lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Text, hierin werden die Interpretierenden also selber zu Benjamins. Ich habe mich denn auch bewusst jeder Interpretation enthalten. Das Werk ist Fragment geblieben und derart disparat, dass bei jeder Art von Interpretation mehr von den Interpretierenden in den Text getragen wird als objektiv gesehen dort zu finden wäre.
Ich für meinen Teil empfehle das Buch nur für welche, die viel Zeit unter der Hand haben.