Thomas Leinkauf: Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350 – 1600). Band 1

Leinkaufs Grundriss erfüllt alle Bedingungen, um für den von ihm behandelten Zeitraum ähnlich epochemachend zu werden, wie es Zellers Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung vor 100 Jahren für die Philosophiegeschichte des antiken Griechenland war. Leinkaufs Darstellung ist fakten- und von daher auch umfangreich (rund 2’000 Seiten). Sie richtet sich an ein Fachpublikum, das durch häufigen Gebrauch von Fachtermini so wenig abgeschreckt wird wie durch den grosszügigen Einsatz von Fussnoten oder die Tatsache, dass die humanistischen Originaltexte auch in der Originalsprache (Latein, aber auch Vernakular, sprich Italienisch und Französisch der Zeit) zitiert werden. Leinkauf stellt die aktuelle philosophiehistorische Faktenlage dar. Ein Handbuch also, das in keiner privaten, öffentlichen oder universitären Bibliothek fehlen wird, die sich auch nur halbwegs ernsthaft mit der Philosophie der beginnenden Neuzeit auseinander setzen will.

Der Zeitraum 1350 bis 1600 wurde gewählt, weil ungefähr um 1350 Francesco Petrarcas erste humanistische Schriften erschienen und 1600 Giordano Bruno starb (als Ketzer auf einem römischen Scheiterhaufen). Leinkauf ist sich dessen bewusst, dass solche Abgrenzungen immer diskutabel bleiben. Dante zum Beispiel schliesst er aus, weil Dante im meisten noch der mittelalterlichen Weltanschauung näher verbunden war als der aufkeimenden humanistischen.

Diese humanistische Anschauung ist geprägt durch vier Irritationen, die in jenem Zeitraum erschienen:

  1. Die »potentia absoluta« Gottes, die Kontingenz der Welt, der Nominalismus
  2. Der Tod (Pest, Epidemien) und die Angst
  3. Kopernikanische Wende und Weltexploration
  4. Protestantismus und Glaubensspaltung

Die Erfahrung also, dass Gott nicht nur der liebende, fürsorgende und sorgfältig planende Vater sein konnte, sondern dass seine Ratschlüsse unergründlich und schrecklich waren. Gerade eben die grossen Epidemien jener Zeit wiesen ja sehr darauf hin, dass Leben und Sterben offenbar mehr dem Zufall als intelligenter Planung unterworfen war. Die Erfahrung, dass die Erde keineswegs im Zentrum des Universums stand. Und last but not least die Erfahrung, dass selbst die bisher universale und alles ordende katholische Kirche in ihrer Macht gebrochen wurde.

Leinkaufs Grundriss folgt der Einrichtung der studia humanitatis, wie sie 1369 vom italienischen Humanisten Coluccio Salutati erstmals aufgezählt (und die Aufzählung sogleich auf Petrarca angewendet) worden war, und wie sie in den von Humanisten beeinflussten oder gegründeten Bildungsinstitutionen an Stelle der artes liberales des scholastischen Bildungsgangs gelehrt wurde: Grammatik, Rhetorik, Poesie, Moralphilosophie und Geschichte standen neu im Zentrum.

Leinkauf beginnt den eigentlichen Grundriss mit einem ganz Petrarca gewidmeten Kapitel. Das folgende Grosskapitel ist der Sprache gewidmet – der Auseinandersetzung nicht nur der ‚Lateiner‘ unter den Humanisten und den in Muttersprache (Toskanisch, später auch Französisch) Schreibenden, sondern ganz allgemein der Auseinandersetzung mit dem aufkommenden scholastischen Nominalismus. Denn tendenziell lässt sich gemäss Leinkauf festhalten, dass es den Humanisten um die Sache, um die Natur, zu tun war, nicht um die Wörter. Das hinderte sie nicht daran, von der Grammatik zur Rhetorik, von der Rhetorik zur Poetik zu kommen. Nicht mehr Aristoteles‘ diesbezügliche Werke waren nun aber ihr Vorbild, sondern in der Rhetorik Cicero, Seneca und Augustin, in der Poetik Horaz als Theoretiker, Vergil als Praktiker. Und bei den in Muttersprache schaffenden Autoren formierte sich das bis heute fest stehende Dreigestirn Dante-Petrarca-Boccaccio (letzterer übrigens ein humanistischer Denker weit über schlüpfrige Geschichten hinaus!). Eine Auseinandersetzung mit Platons Dichter-Begriff führte den Humanismus zur Poetik des Enthusiasmus (Pietro Bembo) und letztlich zum Poeten, dem Gott als Welten-Schöpfer ähnlichen Wesen.

In der Moralphilosophie, also der Ethik, war die Sache komplizierter. Hier spielten religiöse Motive weit mehr hinein und die Diskussion des Spiels zwischen dem Guten, der Tugend, dem Willen und der Freiheit war durch die Auseinandersetzung zwischen katholischer Ansicht und protestantischer (prototypisch die Auseinandersetzung um den freien Willen zwischen Erasmus und Luther) immer behindert. Als Sonderform humanistischer Ethik kann die höfische Ethik gelten, wie wir sie im Cortegiano von Castiglione vervollkommnet finden.

In der Politik – nach scholastischem Verständnis eine Sonderform der (aristotelischen) Ethik – wird das durch die oben geschilderten Irritationen geschürte Bedürfnis nach fester Ordnung zum zentralen Thema. Kontrafaktisch wird der Staat noch lange als antike res publica mit demokratischer Grundstruktur aufgefasst. Erst Macchiavelli wird damit aufräumen; dann aber brechen sich rasch Theorien Bahn, die im Grunde genommen schon absolutistische Verhältnisse fordern. (Sofern nicht, nach Montaigne’schem Muster der Rückzug des Weisen aus der lauten Welt gepflegt wird.) Die Politik ist das einzige Gebiet humanistischen Denkens, wo Aristoteles‘ Schriften massgebend blieben und Platon nicht eingebunden wurde. Oder zumindest erst spät und erst in der Sonderform der utopischen Schriften eines More oder eines Campanella. (Wobei hier dann auch Augustins Gottesstaat nicht zu vergessen ist.)

Cum grano salis lässt sich festhalten, dass der Humanismus philosophiegeschichtlich nicht mehr auf Aristoteles zurückgriff, sondern noch weiter: auf Platon. Nicht mehr auf die Hochscholastik (Thomas von Aquin, Bonaventura), sondern noch weiter in die Vergangenheit, auf die Patristik: (den jungen) Augustin oder Origines. Oder – wenn man auf die Hochscholastik zurückgriff – Nebenströmungen berücksichtigte: die Aristoteles-Kommentare der averroistischen Schule, den Scotismus oder die Kunst der Kombinatorik des Ramon Llull. Man darf sich den Humanismus auch nicht als isolierte oder sich isolierende Schule verstehen. Zeitgleich zu den Humanisten lehrten auch die Scholastiker weiter – vor allem Paris und Oxford blieben fest in ihrer Hand – und die Humanisten setzten sich auch mit den aktuellen Scholastikern auseinander, übernahmen wohl auch das eine oder andere von ihnen. (Wobei die Scholastiker auch ihrerseits Gedanken der Humanisten übernahmen.) Leinkauf geht solchen Dingen kenntnisreich bis in feinste Verästelungen nach. Auch auf Auswirkungen auf späteres Denken wird hingewiesen. Bei Descartes, aber auch bei Leibniz finden wir sehr viel ‚Humanistisches‘; aber selbst Kant greift noch auf diese Strömung zurück.

Ein überaus lehrreicher Überblick, erschienen 2017 bei Felix Meiner, gelesen in der Lizenzausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft vom selben Jahr. Schade, dass viel zu viele Schreib- und Grammatikfehler den Genuss trüben.

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