Obiger, zugegeben nicht sehr hübscher Titel verdankt sich dem taxonomischen Problem, vor welches mich Herman Melvilles Billy Budd, Sailor gestellt hat.
Von der Länge her eine Kurzgeschichte, aber dafür dann doch zu ausufernd – von der Anlage her also wohl ein Roman, habe ich Billy Budd, Sailor auch schon als ‚Kurzroman‘ klassifiziert gefunden. Im Grunde genommen sind das alles Behelfs-Konstruktionen – der Tatsache geschuldet, dass Hermann Melville diesen Text nicht mehr beenden konnte. Was wir haben, sind Rekonstruktionen Dritter anhand der vorhandenen Texte. Wir wissen nicht, was Melville noch hinzu schreiben wollte, oder worauf er letztendlich verzichtet hätte. So haben wir einen Text vor uns mit Melville-typischen Ausschweifungen, die sich aber Melville-untypisch nicht wirklich in den Text integrieren. Billy Budd, auch Baby Budd genannt (was de facto ein Pleonasmus ist, meint doch das englische Wort ‚bud‘ eine Knospe), ist ein Matrose, der von einem Handelsschiff in die Marine gepresst wurde. Er ist jung und sieht sehr gut aus. Dazu ist er fleissig und willig. Schon bald fällt er dem Master-at-arms auf, dem für die Einhaltung der Disziplin auf dem Schiff zuständigen Offizier, eine Art Polizeichef. Hier schleicht sich ganz eindeutig ein homosexueller Unterton ein. Der Master-at-arms, vielleicht von seinen eigenen Empfindungen verschreckt, beginnt Billy Budd nachzustellen, nicht sexuell, sondern indem er versucht, ihn in eine Falle zu locken, ihn zum Beitritt in eine Gruppe angeblicher Meuterer überreden zu lassen. Das misslingt zwar, aber der Master-at-arms versucht dennoch eine öffentliche und offizielle Anklage. Billy Budd ist über diese Anklage derart empört, dass er alle Worte verliert, und den Master-at-arms mit einem Faustschlag niederschlägt. Der Faustschlag erweist sich als tödlich. Damit beweist er in Kapitän Veres Meinung zwar die Unschuld an der angeblichen Meuterei, hat aber in seiner Auflehnung gegen den Master-at-arms gleichzeitig sich tatsächlich der Meuterei schuldig gemacht. Er wird zum Tode verurteilt und gehängt. Die Morgensonne, die hinter der Leiche des immer noch hängenden Billy Budd aufgeht, verleiht ihm eine apotheosenartige Aureole. Es fühlten sich daher Interpreten schon versucht, hinter Billy Budd eine Christus-artige Gestalt zu sehen, aber das halte ich für übertrieben. Es ist nicht einmal sicher, ob Billy tatsächlich so unschuldig war, wie er im ersten Moment herüberkommt; der Sprachfehler, mit dem er geschlagen ist (in Momenten der Aufregung stottert er oder verliert ganz die Herrschaft über seine Zunge), deutet ja irgendwie auch einen moralischen Makel an. Heimliche Hauptfigur des ‚Kurzromans‘ ist sowieso Kapitän Vere. Moralisch einwandfreier Richter oder nur Paragraphen-Hengst, der tut, was er nach Vorschrift zu tun hat? Vere schillert schon in dieser seiner unfertigen Form, und ich könnte mir vorstellen, dass Melville mit ihm noch einiges plante.
Im übrigen zieht sich durch die meisten kurzen Erzählungen Melvilles ein Grundthema hindurch: Nichts (und vor allem: niemand) ist, was es oder er auf den ersten Blick zu sein scheint. Bartleby, der Schreiber, der angestellt wird, um einem Anwalt Kopien der juristischen Dokument zu erstellen – Kopien, die auch mal über 500 Seiten umfassen können. Er scheint fleissig und willig zu sein. Aber dann verweigert er zuerst das Korrektur-Lesen der Kopien, dann das Kopieren selber, dann weigert er sich das Büro zu verlassen, am Schluss weigert er sich implizit, weiter zu leben und verhungert in einer Irrenanstalt.
Benito Cereno scheint der chilenische Kapitän eines im Sturm gescheiterten Schiffes zu sein, von dem nur die halbe Besatzung und ein paar Sklaven überlebt haben. Doch es stellt sich heraus, dass nicht ein Sturm, sondern eine Meuterei der Sklaven die Besatzung und das Schiff derart hergerichtet haben. Und was Cerenos treuer Leibdiener und -sklave zu scheint scheint und ein alter, hinfälliger Greis, ist in Tat und Wahrheit das Oberhaupt der Meuterei und der De-facto-Kapitän. Die schwarzen Sklaven wiederum sind die tatsächlichen Herren auf dem Schiff. (Auch hier gibt es unter den Interpreten Diskussionen darüber, ob Melville nun für oder gegen die Instititution der Sklaverei geschrieben habe. Ich denke, dass ihn dieses Thema hier nicht interessierte, sondern einzig und allein die Frage nach Schein und Sein.)
Auch in The Piazza geht es um Schein und Sein. Ein Mann, der Ich-Erzähler, zieht sich aufs Land zurück. Weil er zu wenig Geld hat für eine Piazza (eine Veranda) rund ums Haus, lässt er nur auf der Nordseite eine bauen. Eines Tages bemerkt er in der Ferne einen hellen Flecken am Hügel eines Berges. Man erzählt ihm, dass dort vor kurzem eine Farm renoviert wurde. Der Ich-Erzähler beginnt sich vorzustellen, was für ein glückliches Leben die Bewohner jener Farm führen müssten. Schliesslich hält er es nicht mehr aus und reitet zu jenem Berg, zu jenem Haus. Es stellt sich heraus, dass dort nur eine melancholische junge Frau wohnt, zusammen mit ihrem Bruder (den der Leser aber nicht kennen lernt). Das Gespräch der Frau mit dem Besucher schleppt ein bisschen dahin, bis die Frau so viel Vertrauen gefasst hat, dass sie ihm ihr Geheimnis zeigt: einen hellen Fleck am Fusse eines weit entfernten Hügels. Wie glücklich doch die Bewohner jenes Hauses sein müssen!, seufzt sie. Es dauert eine Sekunde, bis es der Ich-Erzähler realisiert: Es ist sein eigenes Haus, das sie ihm zeigt. Ohne ihr seine Identität zu gestehen, reitet er zurück – um eine Illusion ärmer.
Hawthorne and his Mosses wiederum ist eine literarische Liebeserklärung an den Naturschilderer Hawthorne, die Melville anonym und unter der Maske eines einfachen, die Natur liebenden Lesers verfasst hat. Wenn es einen Autor gab, von dem Melville glaubte / hoffte, er würde ihn verstehen, war es sein grosses Vorbild und sein grosser Förderer Hawthorne.
Andere Kurzgeschichten Melvilles sind satirische und offen gesellschaftskritische Texte. Praktisch immer steht ein bizarrer Sonderling im Zentrum der Geschichten, oft als Ich-Erzähler. Alles in allem sind es keine zwei Dutzend Kurzgeschichten, die Melville verfasst hat – einige davon sind zu seinen Lebzeiten nicht erschienen, da er seit Moby-Dick als unverkäuflich und unlesbar galt. Heute, wo wir Melvilles literarische Erben Kafka oder Borges kennen, sind wir anderer Meinung: Herman Melville ist auch in der kurzen erzählenden Prosa einer der ganz Grossen.