Tatsächlich, um ein Haar wäre er erschlagen worden, der US-amerikanische Autor mit deutschen Wurzeln Thomas Wolfe, auf der ‚Wiesn‘ beim Oktoberfest 1927. Er geriet nämlich – ziemlich betrunken, um nicht zu sagen sturzbesoffen – in eine Schlägerei, an der er selber nicht ganz unschuldig war, hatte er doch die Gegenpartei (deutsche Burschen und ein Mädchen) ziemlich provoziert. Das tat seiner Liebe zu Deutschland, zu München und zum Oktoberfest allerdings keinen Abbruch.
Das Oktoberfest war für Wolfe die dionysische Erfahrung seines Lebens. In dem kurzen Bericht Oktoberfest erzählt Wolfe von seinem Aufenthalt auf der ‚Wiesn‘. Ins Oktoberfest eingeführt, d.h., auf die ‚Wiesn‘ mitgenommen, wurde er von einem deutschen Freund, als er sich in München aufhielt. Anfangs war Wolfe der skeptische und leicht spöttische Beobachter, der sich auch nur in den Randbezirken des Festes aufhielt, wo weniger Leute und diese noch einigermassen nüchtern waren. Nach und nach aber schlug ihn das Fest in seinen Bann, und er wagte sich in eines der grossen Festzelte. Dort dann riss ihn die von Blasmusik zusätzlich aufgeheizte Stimmung endgültig mit: das Fressen und Saufen, die allgemeine Verbrüderung und (von Wolfe nur vorsichtig angedeutet) die unterschwellige, nichts desto trotz hohe Aufladung der Atmosphäre mit Erotik.
Sein Oktoberfest-Erlebnis (inkl. Schlägerei) sollte für Wolfe prägend werden, und so schrieb er an eine amerikanische Freundin, nachdem er von München nach Salzburg abgereist war:
Heute Abend […] fühle ich, dass mein Leben von nun an freier und glücklicher und weiser sein wird – und obwohl ich dieses läppische Gefühl schon früher mal gehabt habe, glaube ich irgendwie, dass es diesmal wahr werden wird. München hat mich beinahe umgebracht. Es hat mir den Kopf mit Narben übersät, die Nase gebrochen […]. München hat mich beinahe umgebracht – doch binnen fünf Wochen hat es mich so viel über die Menschen gelehrt, wie die meisten Leute binnen fünf Jahren nicht lernen.
(In den eckigen Klammern lässt sich Wolfe über eine Erkältung aus, die ihn zusätzlich noch kurz vor der Abreise gepackt hat.) Wolfe wird das Oktoberfest noch ein paar Mal besuchen; erst die Nationalsozialisten konnten ihn davon abhalten, diese dafür dann endgültig.
Die Story und der Brief Wolfes wurden 2010 als
literarisches Wiesn-Schmankerl anlässlich des 200-Jahr-Jubiläums
bei Manesse in einer zweisprachigen Ausgabe herausgegeben. Der zuerst gesetzte deutsche Teil umfasst keine 40 Seiten, das Nachwort von Horst Maria Lauinger deren 20. Alle Texte folgen dann auf Englisch, so dass wir ein schmales Büchlein, nicht viel grösser als ein Reclam-Heft, von etwas über 100 Seiten vor uns haben. Eine gelungene Lektüre für zwischendurch, auch wenn sie mich nun nicht zu einem Besuch des Oktoberfests verführen konnte. Wolfes Deutsch wird mit allen Fehlern wiedergebeben, die ihm eigen sind; weitere Irrtümer (so nimmt Wolfe einen viel zu hohen Alkoholgehalt des Festbiers an, wenn er ausrechnet, wieviele Liter reinen Alkohols zum Zeitpunkt der Schlägerei in seinem Körper waren – er kommt auf einen ganzen Liter, während es nur deren 0,4 gewesen sein konnten) sind im Nachwort Lauingers korrigiert. Wolfes Fehler tun aber dem Lesevergnügen keinen Schaden, im Gegenteil: Sie sind Teil des Charmes der beiden kleinen Texte.