Elizabeth Gaskell: Schafscherer in Cumberland (1853) / Cousine Phillis (1865) / Mr. Harrisons Bekenntnisse (1855)

Unter dem Titel der letzten Erzählung – Mr. Harrisons Bekenntnisse – erstmals 1996 in der Reihe Manesse Bibliothek der Weltliteratur erschienen.

Elizabeth Gaskell (1810-1865) ist heute im deutschen Sprachraum wenig bekannt, dabei war sie eine Romancière hohen Ranges. (Vielleicht war es ihr Pech, mit Charlotte Brontë befreundet zu sein, und nach deren Ableben die erste Biografie der Freundin verfasst zu haben – eine Biografie, die als stilbildend gilt und mit der Gaskell bis heute identifiziert wird.) Wie keine andere und kein anderer vermochte sie die Umwälzungen, welche die fortschreitende Industrialisierung im noch immer ländlichen England der 1850er und folgende hervorrief, in Bilder und Worte zu fassen. Das brachte die Autorin denn auch in eine schriftstellerische Nachbarschaft und Freundschaft zu Charles Dickens, der ähnliche Themen verfolgte. Elizabeth Gaskell veröffentlichte einige ihrer Werke in Dickens’ Zeitschriften. Die Freundschaft kühlte allerdings rasch ab, da Dickens sich nicht enthalten konnte, in Gaskells Werken herum zu operieren, was die selbstbewusste und resolute Pfarrersgattin nicht duldete.

Schafscherer in Cumberland (1853)

Im frühesten der drei Texte schildert Gaskell ein noch praktisch unberührtes, ländlich-bäuerliches England. Der Text klingt autobiografisch: Eine unbenannte Ich-Erzählerin, vorübergehend mit ihren Kindern auf dem Land wohnend, wird eingeladen, auf einer benachbarten Farm der Schafschur beizuwohnen. Mit Verspätung machen sich die Frau, eine Freundin und die Kinder auf. Was folgt, ist eine realistische Miniatur, die das Landleben lebendig und nicht ohne Humor und Selbstironie einfängt.

Das Eindringen des modernen England ist hier nur subtil und am Rande thematisiert – die zu Besuch kommenden Fremden sind ganz offenbar Städter, werden aber recht problemlos und sehr freundlich in die ländliche Gesellschaft integriert.

Mr. Harrisons Bekenntnisse (1855)

Hier dringt die Moderne in Form eines frisch ausgebildeten Arztes in die noch halb ländliche Gesellschaft einer provinziellen englischen Kleinstadt ein. In der Form von Rahmen- und Binnenerzählung erfahren wir, wie Dr. Harrison (der Ich-Erzähler der Binnengeschichte) in dieser englischen Kleinstadt ankommt und von einem etablierten Kollegen unter die Fittiche genommen wird. Da Dr. Harrison nicht an die kleinstädtischen Verhältnisse und Intrigen gewöhnt ist, tritt er von einem Fettnäpfchen ins andere, was schliesslich dahin führt, dass ihn der städtische Klatsch mit drei verschiedenen Frauen verlobt – nur nicht mit der richtigen, die er eigentlich liebt, und die ihn ob seines liederlichen Lebens natürlich nun verachtet. Dann erkrankt seine Geliebte schwer, und in einer dramatischen Aktion gelingt es Harrison, ihr Leben mit einer neuartigen und gefährlichen Medikation zu retten – gegen den Widerstand des älteren etablierten Kollegen und der ganzen Stadt. Die Erzählung ist satirisch überhöht und hat also sogar ein Happy Ending. (Über dieses macht sich die Autorin aber auch wieder lustig, indem sie in der Rahmenerzählung den Zuhörer des Dr. Harrison – der die Geschichte aus der Retrospektive von mehreren Jahren widergibt – unter dessen Ausführungen sanft eingeschlafen sein lässt.)

Cousine Phillis (1865)

Diese Erzählung zeigt Elizabeth Gaskell auf dem Höhepunkt ihrer Kunst. Auch hier bricht die moderne Zeit ins ländlich-idyllische Leben einer Kleinstadt ein. Diesmal tut sie es in Form des Ich-Erzählers, der als Gehilfe beim Bau einer neuen Eisenbahnstrecke arbeitet. Doch die Industrialisierung bedroht die Idylle weniger in Form des Ich-Erzählers, sondern in der seines Chefs. Der Ich-Erzähler nämlich besucht seine Cousine Phillis und deren Eltern. Die wohnen in einiger Nähe zum Arbeitsort des Erzählers. Der Vater ist 5 Tage in der Woche Landmann, und 2 Tage (dissentischer) Pfarrer. Die Tochter schüchtert den Ich-Erzähler komplett ein. Nicht eingeschüchtert aber findet sich sein Vorgesetzter, ein weit gereister Mann. Nach einer schweren Erkrankung nämlich wird der zur Erholung aufs Land, zu Phillis’ Eltern geschickt. Es kommt, wie es kommen muss: Der Weitgereiste findet an der ländlichen Schön- und Schüchternheit ebenso Gefallen, wie diese von ihm fasziniert ist. Doch dann erreicht ihn der Auftrag, in Kanada Land für einen Eisenbahn-Bau zu vermessen. Er nimmt ihn an, und Phillis erkrankt schwer. Um ihr zu helfen, teilt ihr der Ich-Erzähler im Vertrauen mit, dass sein Vorgesetzter vor der Abreise ihm seine Liebe zu Phillis gestanden hätte, was auch stimmt. Phillis erholt sich, aber dummerweise erreicht unsere Protagonisten nach einem Jahr oder zwei die lapidare Mitteilung, dass der Ingenieur unterdessen in Kanada geheiratet hat. Noch einmal bricht Phillis’ Krankheit aus, aber sie erholt sich zu guter Letzt einigermassen:

Ich weiß, es muß sein; und ich kann und will es!

Meine Nacherzählung ist ein wenig einseitig geraten, und klingt nun so, als ob Elizabeth Gaskell den Fortschritt verteufeln und die ländliche Idylle glorifizieren würde. Dem ist keineswegs so. Auch der Vorgesetzte, bei aller ‘modernen’ Flackerhaftigkeit, ist ein ernsthafter und redlicher Mann, und verdient die Sympathien des Ich-Erzählers ebenso wie die vom Leser oder von Phillis. Andererseits sind auch die Vertreter des Ländlich-Idyllischen nicht ohne Schuld: Zu lange haben der Pfarrer und seine Frau ihre Tochter Phillis noch als Kind betrachtet und behandelt – den körperlich-geistigen Fortschritt zur Frau missachtet. So kam es, dass der hereinplatzende Ingenieur sie quasi zu einer Schnellreife brachte. Und das ist nicht gesund und nicht natürlich.

Elizabeth Gaskell ist in jedem Falle eine zu empfehlende Vertreterin der viktorianischen Literatur. Sie operiert ohne die Exaltiertheiten einer Brontë und ohne den Kitsch des mittleren Dickens.

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