Die Horen kränkeln; aus heutiger Sicht wissen wir, dass es im Grunde genommen bereits ihre Krankheit zum Tode ist, der wir beiwohnen. Das fängt damit an, dass auch diese Nummer die Verspätung der letzten nicht einholt; auch die Oktober-Ausgabe 1796 wird erst gegen Ende des Folgemonats in Jena ausgeliefert. Das geht auch mit der Qualität der Beiträge weiter.
Zwar, rein oberflächlich betrachtet, müsste das nicht so sein. Wir haben unter den Beiträgern mit Kosegarten und Goethe zwei Stars der damaligen Literaturszene vor uns. Ihre Bahnen am Literaturhimmel waren zwar in gegenläufiger Bewegung begriffen (was man 1796 allerdings noch nicht wissen konnte): Goethe, nach langer Zeit der Ruhe, war (angestossen durch die Italienreise und durch Schiller) wieder in schriftstellerische Bewegung gekommen und nun auf dem Weg nicht nur auf den Parnass der deutschen Literatur (dort war er schon), sondern der europäischen und somit der Weltliteratur (die mitzugründen er half). Kosegartens Stern hingegen sollte schon bald – einer Supernova gleichend – verglüht sein. Sein Name sagt heute nur noch Kennern der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts etwas.
Der dritte Beitrag (und mehr als drei Beiträge sind es diesmal nicht) stammt von von einem in der Szene bisher Unbekannten, genauer gesagt von einer Unbekannten: Caroline von Wolzogen. Schillers Schwägerin liefert den ersten Teil ihres Romans Agnes von Lilien. Und der schlug ein wie eine Bombe. Während, wie ich befürchte, das Publikum von Goethes Benvenuto Cellini unterdessen mehr als gesättigt war, und Kosegartens Theon und Theano, ein Liebesidyll, ohne den berühmten Namen des Autors davor auch keine Begeisterungsstürme auszulösen vermochte, traf Caroline von Wolzogens Text offenbar einen Nerv der Zeit. Friedrich Schlegel glaubte gar, ein Werk Goethes vor sich zu haben – was beweist, dass Friedrich der schlechtere Literaturkritiker der beiden Brüder war. In Sprache und Wortwahl ist Caroline von Wolzogen weit von Goethes umständlichem Kurialstil entfernt, und thematisch wäre der Roman für Goethe mehr als ein Rückfall in die Zeiten des Werther gewesen: Die empfindsame junge Frau, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, weist auf Samuel Richardson zurück.
Caroline von Wolzogens Roman wird heute nicht mehr, bzw. nur noch unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkt, gelesen. Der Text hat mich aber doch überrascht, und ich verstehe, dass dieser Gesichtspunkt interessiert: nämlich der einer Befreiung der Frau aus den konventionellen Schranken des 19. Jahrhunderts. Zarte Hinweise auf erwachende weibliche Sexualität und Selbstbestimmung sind durchaus ausmachbar, auch wenn der Text in vielem anderen, auch frauenemanzipatorischen, dann wieder platt und banal daher kommt.
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