Das Leben ist Traum: Calderón ist mit seinem Drama zum Ahnherrn einer ganzen Reihe von dramatischen Ausflüchten geworden. Nicht nur grosse Autoren wie Franz Grillparzer oder Hugo von Hofmannsthal haben sich an seinem Drama orientiert. Bis heute ist es die Lieblingsmethode fauler oder unfähiger Drehbuchschreiber von US-amerikanischen TV-Serien, nicht nur einzelne Folgen, sondern ganze Staffeln im Nachhinein als Traum zu erklären, wenn zum Beispiel ein Star, der die Serie verlassen hat, weil er sich mit dem Sender nicht über die Gage einigen konnte, definitiv (so glaubte der Zuschauer) als tot aus der Serie heraus geschrieben wurde, nach einem Jahr Pause wieder zurück kam, und sein Wiederauftauchen also erklärt werden musste (Dallas, wenn ich mich recht erinnere), oder wenn sich die gesammelten Drehbücher in eine Sackgasse verirrt hatten, und man den gordischen Knoten kurzerhand mit dem Motiv des Traums durch haute (sinngemäss in Star Trek – Voyager).
Dabei ging es Calderón gar nicht darum, zu behaupten, dass das Leben das Äquivalent eines Traums sei. Der Spanier aus dem siebzehnten Jahrhundert wollte vielmehr aussagen, dass das Leben darin bestehe, dass man irgendwelchen Träumen, irgendwelchen Illusionen nachjage. Und das tun alle Hauptpersonen des Stück weidlich. Basilio, der König von Polen, glaubt, dass sein Sohn unter schlechten Sternen geboren ist, und wie Laios, Ödipus‘ Vater, glaubt auch hier der Vater, dem Schicksal eins auswischen zu können, indem er den Sohn vom Hof entfernt – beim Spanier, indem er ihn in einen Turm wegsperrt. Basilio wird von der Realität eingeholt, die für den alten Mann einen Nachfolger verlangt. Doch auch Segismundo, der Sohn, erliegt einer Illusion, indem er nicht nur die Gestalt seines Vaters dämonisiert (verständlich, angesichts der Tatsache, dass der ihn weggesperrt hat), sondern indem er glaubt, dass die Macht über ein Reich haben, bedeutet, alles tun zu können, was einem durch den Kopf schiesst. Als Segismundo nämlich probeweise (eben: quasi im Traum) in den Palast und auf den Thron transferiert wird, benimmt er sich genau so, wie es Basilio befürchtet hat: Er bringt einen Höfling einfach so um, weil der ihm zu widersprechen wagte, und er versucht, Rosaura zu vergewaltigen, die an den Hof gekommen ist, weil sie ihrerseits der Illusion unterliegt, dort zuerst als Mann verkleidet und mit einem Schwert in der Hand, dann als Dienstmädchen verkleidet, ihre verlorene Ehre bei ihrem Verführer Astolfo wieder herstellen zu können (eine Nebenhandlung, die sich durchs ganze Stück hindurch um die Haupthandlung des Segismundo rankt).
Das Stück weist ein Happy Ending ausf. Segismundo kann sich aus seinem Gefängnis befreien und putscht gegen seinen Vater; er erweist sich aber im zweiten Anlauf als gerechter Herrscher, indem er (für alle, aber auch gerade für den im Grunde genommen absolutistischen Herrscher) Recht und Staatsverantwortung vor die Freiheit des Einzelnen stellt.
Happy Ending für alle – ausser für zwei. Den unglücklichen Höfling haben wir schon angesprochen, aber der war immer nur eine kleine Nebenfigur. Es gibt aber in diesem Stück noch den sogenannten „Gracioso“, ein Art barocker Narr. Er heisst hier Clarín, und tritt uns zuerst als Begleiter Rosauras entgegen. Der „Gracioso“ ist von Natur aus feige, vielleicht, weil er die Verhältnisse nur zu gut durchschaut. Und so ist Clarín das einzige namhafte Opfer des Putsches, der einzige, der in den Kämpfen stirbt – ironischerweise gerade, weil er sich vor den Auseinandersetzungen zwischen Felsen versteckt hat. Gerade dort wird er von einer verirrten Kugel, einem Querschläger, getroffen. Den „Gracioso“ sterben zu lassen, ist für das spanisch-barocke Theater ungewöhnlich; und ich weiss nicht, inwiefern hier Calderón hier eine leise Kritik am spanischen Hof durchblicken lässt, dessen Hofdramatiker und später auch Hofkaplan er zwar war, was ihn aber keineswegs in Reichtum schwelgen liess (im Gegenteil!). Die Vernunft, die zwar feige ist, aber Recht hat, hat keinerlei Daseinsberechtigung am Hof. Nicht, dass man sie, die sowieso nur eine – wenn auch in die Augen fallende – Nebenrolle spielt, offen aus dem Weg räumen würde. Man beachtet sie gar nicht, und gerade deswegen gehört sie zu den Opfern bei den Wiederherstellung der korrekten Verhältnisse.