Tim Bryars / Tom Harper: A History of the 20th Century in 100 Maps

Antiquariate beherbergen nicht nur alte Bücher, sondern auch anderes auf Papier Gedrucktes. Gerade alte Landkarten sind recht oft anzufinden. Tim Bryars und Tom Harper sind Antiquare, in London ansässig. Ihnen ist aufgefallen, dass sich aus Karten sehr gut eine Geschichte bzw. eben Geschichte erzählen lässt. So entstand dieses Buch, das 2014 von der British Library herausgegeben wurde.

Tatsächlich lassen sich anhand von Landkarten sehr gut die Veränderungen nachvollziehen, die das 20. Jahrhundert mit sich gebracht hat. Bryars und Harper haben für ihr Buch nicht nur offizielle Landkarten in Betracht gezogen – die natürlich auch. Viel spannender wird die Geschichte aber, wenn andere kartografische Zeitzeugnisse mit einbezogen werden. Es beginnt mit einer früh im 20. Jahrhundert in Frankreich veröffentlichten Karte aus einem politischen Buch, in der der französische Autor skizziert, wie Deutschland seiner Meinung nach von den gegnerischen Mächten nach dem Ersten Weltkrieg aufgeteilt werden sollte. Diese Aufteilung fand nicht statt (auch wenn die Karte verblüffend an die Form erinnert, die die politische Landkarte dann nach dem Zweiten Weltkrieg annehmen sollte!), aber die Karte tauchte in Deutschland wieder auf – diesmal als Propagandamittel gegen die Franzosen. Habent sua fata… Gerade die politische Propaganda verwendete immer wieder Karten, um Sachverhalte aufzuzeigen bzw. zu insinuieren.

À propos Krieg: Auch von Hand erstellte Skizzen aus den Gräben des Ersten Weltkriegs lassen die beiden Autoren ihre Geschichte erzählen. Oder die speziell erstellten Karten mit den präzisen Aufmarschplänen für Hitlers Reichstag in Nürnberg. Doch ebenso interessant sind die (auf den ersten Blick) nicht-politischen Karten. Wir finden sehr viele verschiedene Beispiele, die zeigen, in welchen Bereichen wir heutigen Europäer Karten verwenden, und welchen Einfluss sie auf unser Leben haben. Da ist der Linienplan der Londoner Subway von 1933, der genau so aussieht, wie er noch heute aussieht, und der zum Paradebeispiel nicht nur für Art Déco sondern für Industriedesign überhaupt geworden ist: Praktisch alle Linienpläne des Öffentlichen Verkehrs wo auch immer auf der Welt kopieren dieses Design. (Der ursprüngliche Designer hatte übrigens daran keine finanzielle Beteiligung.)

Auch die industrielle Entwicklung lässt sich anhand von Karten aufzeigen: 1905 war es für die Logistik der Hafenbehörden von Cardiff (Wales) noch ungeheuer wichtig, welche der verschiedenen britischen Eisenbahngesellschaften ihre Geleise im Hafen wo durchführte, sich wo mit welcher andern berührte oder kreuzte. Der Hafen war rund um die Uhr in Betrieb; die Eisenbahngesellschaften ungeheuer eifersüchtig auf einander. Dann kam die Verstaatlichung aller Eisenbahngesellschaften und der allgemeine Niedergang des Bahnverkehrs. 1980 erschien ein Routenplaner eines Familienrestaurants (Happy Eater – war damals in Grossbritannien ein Begriff), wo die Strassen und eben die jeweilige Lokalisierung eines Restaurants der Kette aufgezeigt wurden.

Andere Entwicklungen lassen sich ebenfalls an Karten ablesen. 1901 erschien eine Karte, die alle dem „British Empire“ zugörigen Gebiete rot markierte, und zusätzlich durch die gewählte Projektion suggerierte, dass mindestens die Hälfte des Globus britisch sei. Die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zeichnet sich dadurch aus, dass solche Karten – gänzlich fehlen.

Auch literarische Phänomene lassen sich aufweisen. Irreale, nur literarisch existierende Welten zu kartografieren, war schon 1918 in Mode, als eine Karte von „Fairy Land“ gedruckt wurde, eine Karte, die in dreidimensionalem Aufriss alle aus Märchen und Mythen bekannten Gebiete zu einer fiktiven Insel aneinander fügte – egal, ob es sich um Volks- oder um Kunstmärchen handelte. Nur 8 Jahre später sollte A. A. Milnes seinem Winnie-the-Pooh eine Karte des Hundred Acre Wood beifügen lassen. Waren das noch seltene Ausnahmen und Visualisierungen für Kinder, so sollte 1954 J. R. R. Tolkien seinem Lord of the Rings ebenfalls eine Karte beilegen, die von Mittelerde. Diese Karte war insofern speziell, als auf ihr nicht nur Punkte und Gegenden aufgeführt waren, die die Helden des Buchs tatsächlich berührt hatten, sondern auch weitere – so der Karte ein Flair von Echtheit gebend, die mustergültig wurde. Heute darf kaum ein grösseres Fantasy-Epos erscheinen, ohne dass auf dem hinteren Vorsatzblatt eine Landkarte der fiktiven Gegenden beigefügt ist. (Und wehe, ein Autor oder ein Verlag trauen sich mal, darauf zu verzichten! Das Fehlen solcher Karten ist mittlerweile immer das erste, das die Leserschaft moniert.)

Man sieht vielleicht aus meinen Beispielen, dass der Titel des Buchs insofern nicht ganz stimmt, als die beiden Autoren das 20. Jahrhundert vor allem am Beispiel Grossbritanniens aufrollen. Man hätte wohl besser getan, von einer Geschichte Grossbritanniens im 20. Jahrhundert zu sprechen. Nichtsdestotrotz mit seinen grosszügigen Illustrationen auf Hochglanzpapier viel Spass für die Augen, viel Lesevergnügen und auch einiges an belehrender Unterhaltung.

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