Im Dritten Buch seines Gastmahls behandelt Dante Alighieri sein Canzone Amor che ne la mente mi ragiona [Amor, der im Geist mir handelt]. Er fährt hier die ganze Batterie scholastisch-philosophischen Wissens und Denkens auf, um einerseits den Nachweis zu erbringen, dass er mehr sei als ein sinnenfreudiger Minnesänger (Dante will für sich die ökologische Nische des Poeta Philosphicus erobern!), die im Canzone besungene Dame also mehr als eine Dame aus Fleisch und Blut sei; andererseits will Dante einmal mehr die Philosophie popularisieren, d.h., am Hofe erläutern und bekannt machen.
Wiederum arbeitet Dante mit Teilen der Lehre vom vierfachen Schriftsinn, indem er seinem Gedicht sowohl einen wörtlichen wie einen allegorischen Sinn unterstellt. Die Dame aus Fleisch und Blut wird so zur Dame Philosophie, Amor wird zum Drang nach Erkenntnis usw. Um diese Beweis führen zu können, bringt Dante erkenntnistheoretische Beispiele, vor allem aus der Welt des Lichts und des Sehens, wo er ganz auf Aristoteles‘ Seite ist, der im Gegensatz zu Plato davon ausging, dass das Auge beim Sehen nur passiv ist, wendet das dann aber neuplatonisch in eine Emanationslehre um, nach der Gottes Liebe sich über alle seine Wesen ergiesst. Dieses Sich-Ergiessen findet auch stufenförmig statt; d.h., wenn Gottes Liebe sich in die Intelligenzen ergiesst, so kann es auch von dort weiter in die Menschen fliessen – mit andern Worten: Auch die Engel haben Anteil an der Bildung des Menschen. Mit dieser Ansicht entfernt sich Dante doch sehr von Thomas von Aquin, der sonst derjenige ist, den er am meisten als Aristoteles-Kommentator übernimmt. Schon näher ist er mit solchen Gedanken am weniger aristotelisch denkenden Albertus Magnus. Avicenna ist für Dante eine weitere Autorität, auf die er sich explizit beruft (Averroës bleibt im Hintergrund). Grossen Einfluss hat offenbar die einzige zu seiner Zeit im Text bekannte Schrift Platons gehabt, der Timaios, und noch grösseren das ebenfalls oft zitierte Liber de causis. Letzteres eine weitere Wurzel von Dantes in diesem Text sehr stark hervortretenden Neuplatonismus. Nicht zu vergessen, dass Dante sich der Dame Philosophie nun vor allem über die Freundschaft, also die Moralphilosophie, nähern wollte, wobei ihm da wiederum des Aristoteles Nikomachische Ethik und die scholastischen Kommentare dazu ein Vorbild waren.
Unterschwellig will der Text natürlich ausdrücken, dass Philosophie, dass Philosophieren ein erotisches Erlebnis im weiteren Sinne sein kann – und damit eine Tätigkeit, die auch Laien zusteht, die auch für Laien möglich ist. Und wenn wir hier von Laien sprechen, so ist nicht ausser Acht zu lassen, dass Dante in seinem Publikum viele Frauen hatte, die er keineswegs ausgeschlossen hatte, sondern explizit einbezogen wissen wollte.
Dante Alighieri: Das Gastmahl. Drittes Buch. Italienisch-Deutsch. Hrsg. unter der Leitung von Ruedi Imbach. Hamburg: Felix Meiner, 1998. (= D. A.: Philosophische Werke 4/III. // = Philosophische Bibliothek 466c)