Aber das erwähnte „Entscheidende“ fehlt dort oft: Die menschliche Komponente, die Frage, wie einzelne Personen zu ihren Entschlüssen gekommen sind, sich in ein politisches System integriert haben bzw. wie die große Masse diese Politik erlebt hat – und erdulden und erleiden musste. Gilbert hatte die Möglichkeit, den führenden Nationalsozialisten auch abseits der Prozesses näher zu kommen, er hat sie als Menschen kennengelernt in all ihren Facetten, feige, ängstlich, präpotent, verunsichert, verzweifelt. Diese Gespräche sind deshalb so aufschlussreich, weil es hier keine klare Hierarchie gab – da der Ankläger, dort der Täter. Wie schon H. Arendt von der Banalität des Bösen im Falle Eichmans berichtet hat, so stellen sich auch hier die Angeklagten als erschreckend durchschnittlich, durchschaubar dar, nicht das fleischgewordene, ungeheure Böse tritt dem Leser gegenüber, sondern der bornierte, kleine, eitle Gauner, der durch die Umstände der Weltgeschichte zum Vertreter der Herrenrasse und damit auch zum Massenmörder wurde. Manchmal scheinen die Angeklagten selbst über die Konsequenzen ihres Tuns zu staunen, darüber, dass die Propaganda vom Untermenschen, vom lebensunwerten Leben in allen Ausprägungen Wirklichkeit wurden. In keinem anderen Buch habe ich das Böse derart authentisch und trivial dargestellt gefunden, teilweise Pose und Feigheit bis zum erfolgten Todesurteil, teilweise aber auch das Eingeständnis einer Schuld, die durch das Ungeheuerliche ihres Ausmaßes fast unwirklich erscheint.
In Dollingers Band „Kain, wo ist dein Bruder?“ wird die andere Seite des Krieges, der Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus dargestellt. Briefe und Tagebucheintragungen von Zivilpersonen, Frontsoldaten, KZ-Insassen aller Nationen zeigen ein grausam realistisches Bild dieser Zeit, das einem Leser in Friedenszeiten unverständlich, unbegreiflich erscheint. Hier wird nicht auf der großen Bühne der Weltpolitik gestorben, sondern von aller Welt unbeachtet, verbrannt in Luftschutzbunkern, erfroren, jämmerlich krepiert irgendwo im Dreck an der Front aus für den Einzelnen nicht nachvollziehbaren Gründen; müde, leer kllingen die Phrasen vom kämpfenden deutschen Volk in den Briefen an die Daheimgebliebenen und mit jedem Jahr des Krieges wird der Wahnsinn des Kämpfens offenkundiger, sinnloser.
Dollinger baut sein Buch streng chronologisch auf, zwischen den Augenzeugenberichte wird ausführlich die politische und militärische Situation referiert, sodass man immer genau weiß, zu welchem Zeitpunkt (anlässlich welcher Vorkommnisse) die Aufzeichnungen entstanden sind. Es ist Geschichte von unten, beschrieben von denen, die keinen Einfluss hatten auf die große Politik, die ihnen das Unbegreifbare, Unverständliche aufoktroyierte. Gerade dadurch, dass es sich um die Berichte „einfacher“ Menschen handelt, nicht um Texte professioneller Schreiberlinge, die auf den prospektiven Leser abzielen, wird eine beeindruckende Nähe zu den Ereignissen erzeugt. Unmittelbare Angst, Verzweiflung – nirgendwo angekränkelt von des Gedankens Blässe – kommen zum Ausdruck, oft im Bewusstsein des nahen Todes, in der Gewissheit, den Empfänger des Briefes nie wiederzusehen. – Es gibt einen ähnlich berührende Band „Letzte Briefe aus Stalingrad“, der die Nähe des Grauens ähnlich gut zum Ausdruck bringt.
Sowohl Gilbert als auch der von Dollinger herausgegebene Band sind historisch wertvolle Quellen, sind Dokumente, die in ihrer Schonungslosigkeit (die letzten 100 Seiten von Dollingers Buch sind etwas für Leute mit starken Nerven) und Banalität ein prägendes Bild dieser Zeit liefern. Sehr gut vorstellbar ist ihre didaktische Verwendung: Mein Geschichtsunterricht präsentierte mir die Schlachten des Zweiten Weltkrieges nicht viel anders als jene zwischen Römern und Hannibal: Als abstrakte Daten mit ebenso abstrakten Opferzahlen. Aber das mag sich in den letzten 40 Jahren – hoffentlich – ein wenig geändert haben, diese beiden Bücher könnten jedenfalls zu einem anderen, weniger theoretischen Geschichtsverständnis beitragen.