Glücklicherweise hat Dante auch anderes gewebt als diese aristotelisch-scholastische Vererbungstheorie, die man (und de Libera tut das) selbstverständlich einer tiefsinnigen philosophischen Analyse unterziehen kann. Dass das besonders spannend ist kann man kaum behaupten und es hätte dieses Umweges wohl auch gar nicht bedurft: Der von Dante vertretene säkulare Adel lässt sich auch simpler beweisen. Aber das ist nicht die Sache des Autors.
Gänzlich abstrus wird die Sache dann bei Meister Eckhart. Diesen als Mystiker zu bezeichnen fällt de Libera schwer, er hat einen Bedeutungsunterschied zwischen dem Substantiv „Mystiker“ und dem Adjektiv „mystisch“ ausgemacht und meint betonen zu müssen, dass im Mittelalter einzig das Adjektiv in Gebrauch gewesen sei – und zwar immer, um den Zusammenhang mit einer bestimmten Art von Theologie zu kennzeichnen. (Ich erwähne dies – in all seiner Unerheblichkeit – deshalb, um einen Begriff von de Liberas Schreibweise zu geben: Seine Hingabe an die Belanglosigkeit. Denn Konsequenzen werden aus diesen Sprachbetrachtungen keineswegs abgeleitet.) In weiterer Folge will er dann Meister Eckhardt einen ebensolchen Adelsbegriff wie Dante nachweisen, der durch Eckharts Predigten (vor allem vor Beginen, also jenen Frauen, die sich zwar als christlich verstanden, aber nicht in die katholische Hierarchie integriert – also keine Nonnen waren) ein weite weltliche Verbreitung gefunden habe.
Diesen Beweis versucht er vor allem über den von Eckhart bzw. von mit ihm in Verbindung stehenden Mystikerinnen (darf ich das Wort nun überhaupt gebraucht?) vertretenen, höchst nebulösen Gottesbegriff anzutreten. Genau hier scheint die Hauptschwierigkeit in de Liberas Beweisführung verborgen zu sein: Weder Eckhart noch den mit ihm verbunden Mystikern war es um Intellektualität bzw. eine Verbreitung derselben auch nur im mindesten zu tun – im Gegenteil: Auch die von de Libera angeführten Zitate zeugen von dem Wunsch, genau dieses Denken aufzugeben, um in Gott aufzugehen bzw. Gott zu werden. Und es geht immer auch um die Sündhaftigkeit des Menschen, seine Verworfenheit, weshalb Eckhart in Predit 14 sagen kann: „Gottes Höhe liegt an meiner Niedrigkeit: wo ich mich erniedrige, da würde Gott erhöht“. Dieses Menschenbild gebiert keinen Intellektuellen, sondern einen Weltflüchtling, der seiner Sündhaftigkeit wegen sich verbergen muss: „Daß Abgeschiedenheit Gott zu mir zwingt, das bewähre ich damit: Ein jedes Ding ist doch gerne an seinem natürlichen Ort, der ihm eigen ist. Nun ist Gottes natürliche Eigenstätte Einfachheit und Reinheit; die kommen von der Abgeschiedenheit. Darum muß Gott notwendig sich selbst einem abgeschiedenen Herzen hingeben.“ (Myst. Schriften Meister Eckhart) Nur in der Abgeschiedenheit wird einem das Glück eines einwohnenden Gottes zuteil. Dieses „Einwohnen“ in den verschiedenen Schriften zu analysieren wird de Libera nicht müde (wobei der Kontext zur Intellektualität rätselhaft bleibt): Gottes Geburt in der Seele ist – nach Meister Eckhart – insofern ewig, als „ihr einziger Ort unterschiedslos der grundlose Grund der Seele und der Abgrund der Gottheit ist.“ (S. 243) Aber Eckhart meint nach de Libera noch mehr als das – und dieser lässt uns teilhaben an seinen Erkenntnissen: „Die aneignende Enteignung des Menschen ist gleichzeitig eine aneignende Enteignung Gottes. Eckhart sagt nicht nur, daß die Geburt des Sohnes in der Seele eine Wiedergeburt der Seele in Gott ist – eine These, die er in Predigt 10 entwickelt -, er behauptet überdies, daß der Vater ’seinen Sohn in der Seele gebiert wie in seiner eigenen Natur‘ (Predigt 4).“ (ebda) Und weiter: „Man muß nur die wenigen Zeilen in Predigt 6 lesen, die von der Unausweichlichkeit der göttlichen Geburt handeln, um zu begreifen, daß die Geburt Gottes in der Seele bei Eckhart weniger eine Teilhabe der Seele am trinitarischen Leben ist als ein Gebären Gottes in sich selbst.“ Bei Eckhart klingt das so: „Der Vater gebiert seinen Sohn in der Ewigkeit sich selbst gleich. Das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort: es war dasselbe in derselben Natur. Er hat ihn geboren in meiner Seele. Nicht allein ist sie bei ihm und er bei ihr als gleich, sondern er ist in ihr; und es gebiert der Vater seinen Sohn in der Seele in derselben Weise, wie er ihn in der Ewigkeit gebiert und nicht anders. […]“
Das ein kurzer Ausschnitt dessen, wie de Libera Meister Eckhard Intellektualität nachweist. Le Goff vertrat die Ansicht, dass durch die Eckhartsche Mystik der Niedergang des mittelalterlichen Rationalismus besiegelt wurde, de Libera „meint gezeigt zu haben, daß dem nicht so ist“. (S 256). Mir scheint, als ob der Autor von seiner Intellektualitätsthese von vornherein überzeugt war, sodass ihm die Sicht verstellt wurde auf die Tatsache, dass es einem Meister Eckhart (auch wenn er an der Pariser Universität studiert hatte) um nichts weniger denn als Intellektualität gegangen ist, sondern immer nur um Gottfindung, um Glückseligkeit, das Erreichen derselben, um einen Weg durch das irdische Jammertal hindurch zur Seligkeit. In diesem Jammertal ist nicht nur die Materie und der Mensch an sich Ursache für all das Unglück, auch das Denken ist – wie etwa in dem ausführlich zitierten Beispiel der Schwester Katrei (S. 230 ff.) – ein Hindernis auf dem Weg zu Gott: Man muss sich selbst absterben, die vollkommenste Gelassenheit entwickeln, um zum Glück zu gelangen. De Libera macht aus dieser Gelassenheit Abenteuerliches: Sie weise über Aristoteles hinaus, „nicht weil sie eine Flucht ins Irrationale wäre, sonder weil sie wieder an die beständigste Inspiration des Neuplatonismus anknüpft.“ Aber dann fährt er fort, ohne sich des Widersinns bewusst zu werden: „Gelassenheit ist der neue Name des Denkens in actu, eines Denkens, das nicht mehr mit irgendetwas denkt, sondern sich von allem zurückzieht, indem es alle Dinge, Gott inbegriffen, sein läßt.“ (meine Hervorhebung) Wie das Denken in dieser Gelassenheit trotz des absoluten Rückzuges über Aristoteles hinausweisen (oder an neuplatonische Inspirationen anknüpfen) soll, bleibt das Geheimnis des Autors. Denn nach seinen Worten ist die Gelassenheit ein „Seinlassen, Zulassen, Loslassen und Verlassen“, hier scheint Denken im Nichtdenken zu bestehen.
Das Kuriose an diesem Buch sind aber nicht seine Schlussfolgerungen (über die man ewig und drei Tage streiten könnte), sondern der Anspruch, mit dem der Autor auf den ersten Seiten auftritt: Nämlich als jemand, der dem Mittelalter jene Aktualität verleiht, die ihm nach seiner Ansicht zusteht. Wer hingegen nach diesem Buch immer noch an mittelalterlicher Philosophie interessiert ist, wird dies vielmehr trotz, nicht wegen dieses Buches sein. Denn es ist gerade im zweiten Teil eine wunderbare Darstellung dessen, was man sich unter scholastisch-theologischen Spitzfindigkeiten vorstellt, es ist ermüdend, langweilig und nichts weniger als aktuell. Wahrscheinlich ist es damit tatsächlich ein Abbild mittelalterlichen Denkens: Eine alles beherrschende Kirche, zurecht ängstliche Intellektuelle (die Inquisition hat auch die Werke Meister Eckhart verdammt), die dadurch auf wenig fruchtbare, intellektuelle Spielereien verwiesen wurden. Selbstverständlich gibt es (etwa bezüglich der Fragen von suppositio und der significatio oder im Nominalismus) äußerst Interessantes (und vielleicht auch noch Entdeckenswertes), aber eben auch vieles, das zu Recht der Vergessenheit anheim gefallen ist. Keinesfalls aber gelingt es diesem Buch, dem philosophischen Mittelalter spannende oder faszinierende Aspekte abzugewinnen. Sondern es erfüllt die Erwartungen all derer, die in einem solchen Werk eine trockene, abgehobene und weltfremde Beschreibung mittelalterlicher Denkweisen vermuten.