Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zweiter Theil: Die Lehre vom Schönen in einseitiger Existenz oder vom Naturschönen und der Phantasie

Der zweite Theil von Vischers Aesthetik zerfällt in zwei Abtheilungen: Die Lehre vom Naturschönen und Die Lehre von der Phantasie. Wobei ‘zerfallen’ fast wörtlich genommen werden kann, indem die beiden Abteilungen wenig miteinander zu tun haben, ausser, dass sie – gemäss Vischer – die ordentliche Entwicklung sein sollten in der Lehre vom Schönen.

Die Lehre vom Naturschönen

Im Grunde genommen entwickelt Vischer in der ersten Abteilung eine Art Naturphilosophie der guten, alten Schule. Das Schöne in der Natur wird von ihm entwickelt, indem er bei der Schönheit von Sonne und Mond, den Jahreszeiten, Gebirgsformationen spricht, über die Schönheit der Fische zu der der Säugetiere kommt und schliesslich beim menschlichen Körper endet. Kein Wunder, wird in dieser Abtheilung sogar Alexander von Humboldt erwähnt, der in einem seiner Werke zur Geognosie auch Ansätze zu einer Ästhetik des Naturschönen geliefert habe. Wenn es um die Farben geht, die im Naturschönen natürlich eine grosse Rolle spielen, wird Goethes Farbenlehre des öftern angezogen (ohne im Übrigen darauf einzugehen, dass Goethe damit ja keine ästhetische Theorie aufstellen wollten, sondern eine rein naturwissenschaftliche). Bei den Pflanzen zeigt sich der gelehrte Professor der Literatur einmal mehr: Brockes dient ihm da als Zeuge. Schliesslich, wenn es um die Unterschiede von Mann und Frau geht, kommt auch der andere Humboldt noch an die Reihe, Wilhelm.

Das grosse Leitbild ist Vischer aber, auch von der Reihenfolge der behandelten Phänomene, Herder mit seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von 1784-1791, die ja ebenso naturphilosophisch ausgerichtet waren wie geschichtsphilosophisch.

Dabei zeigt sich Vischer keineswegs von unhinterfragten Vorurteilen frei, im Gegenteil. Ob es nun die gemässigten Klimazonen sind, die er ästhetisch den ganz heissen oder den ganz kalten vorzieht, oder die Säugetiere, die er den Fischen vorzieht (wobei er die Walfische ebenso zu den Fischen zählt, wie Ishmael, der Ich-Erzähler von Moby-Dick), den Mann der Frau oder den Weissen allen andern Rassen. Vischer verurteilt Lavaters Physiognomik – nur um dann selber Urteile in ähnlichem Stil zu fällen. Vom affenartigen Neger  spricht er einmal – wie er überhaupt ästhetische und ideologische Urteile vermischt:

[…] der kühne, freie, waldfrische Jäger ist ein viel benutzter ästhetischer Stoff.

meint er S. 185, um dann die Reduction des Jägers auf den Forstbeamten zu beklagen.

Die Lehre von der Phantasie

Nicht besser geht es in dieser Abtheilung. Wenn Teil 1 eine Art Naturphilosophie darstellte, so Teil 2 eine Art Kulturphilosophie. Auch hier denkt Vischer ganz unbefangen in eurozentrischen Kategorien. Die Chinesen sind für ihn einfach – Mongolen. Ihre grossen kulturellen Verdienste scheint er gar nicht zu kennen. Vom ein bisschen näheren Orient (Indien und Persien) hat er das Bild, das ihm von den Geschichten aus 1001 Nacht vermittelt wurde.

In der zweiten Abtheilung ändert Vischers Leitstern. Kulturphilosophie ist für Vischer vor allem Kulturgeschichte – und wenn es um menschheitsbezogene Geschichte geht, drängt sich Hegel wieder in den Vordergrund. Allerdings ist Geschichte für Vischer primär Stoff – Vorwurf für Dramen und Gemälde. Vor allem Dramen. Und – merkwürdigerweise – für die Mode. (Hier wäre allenfalls ein Stück Originalität von Vischer zu finden, in der Relation, die er modischen Erscheinungen mit der Geschichte gibt.)

Der Phantasie als Formbildung folgen Kapitel, die sich im Grunde genommen lesen wie eine Geschichte der Literatur, denn Part B. Die Geschichte der Phantasie oder des Ideals ist grosso modo nur dies. Dabei werden gewisse literarische Formen mit gewissen Völkern, bzw. Entwicklungsstufen verbunden, so im Alterthum: Symbol, Mythus, Sage mit den Indiern, Persern, Semiten, Aegyptern und Juden; dem folgt das classische Ideal der griechischen Phantasie, um abzuschliessen mit der römischen Phantasie (die bereits wieder einen Niedergang im Verhältnis zum Gipfel der griechischen darstellt). Die Epoche der Völkerwanderung und das Mittelalter (beide interpretiert er v.a. als Ringen germanischer und romanischer Volksstämme) folgen, und als Mitte haben wir die französische Klassik, die deutsche und – die Romantik. Immerhin kennt Vischer hier keinen Abschluss – er hat offenbar nicht das Gefühl, in einer Periode der Dekadenz zu leben. Und er gibt dem Humor einen eigenen Platz in seiner Literaturgeschichte – auch wenn er ausser Jean Paul und Liscov (der ihm aber zu subjektiv ist) kaum Beispiele dafür in der deutschen Literatur findet. Molière scheint er nicht zu kennen, und dann bleibt ihm nur der überall in Erscheinung tretende Shakespeare.

Alles in allem für eine Geschichte der Ästhetik interessant, auf einer Meta-Ebene also. Als eigentliche Ästhetik können die unreflektierten Äusserungen Vischers heutzutage nicht mehr bestehen.

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