Teil 3 der Ästhetik Vischers wurde in 5 Teilbänden ausgeliefert. Der Bequemlichkeit halber werde ich die 5 Teilbände hier separat vorstellen. Als erstes also Band 3.1, dessen vollständiger Titel lautet:
Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen von Dr. Friedrich Theodor Vischer, ordentlichem Professor der Aesthetik und deutschen Literatur an der Universität zu Tübingen. Dritter Theil: Die Kunstlehre.
Band 3.1 umfasst von der Kunstlehre sodann erst einmal den
Ersten Abschnitt. Die Kunst überhaupt und ihre Theilung in Künste.
Endlich wird Vischer etwas konkreter; und das bedeutet auch, dass er nun die Fesseln der Hegel’schen Dialektik und Metaphysik zum grossen Teil hinter sich lässt und mit dem Studium konkreterer Phänomene auch eine weniger verschwurbelte Sprache verwendet. Natürlich sind wir in diesem ersten Abschnitt immer noch in einer sehr globalen Betrachtung der Künste gefangen, aber nach dem Uebergang der Phantasie zur Kunst wird als zweiter grosser Brocken doch schon die Vorarbeit zur Ausführung behandelt, und wenn man Vischer nun etwas vorwerfen könnte, ist es höchstens, dass er allzu rasch von den Höhen der Metaphysik in die Niederungen der Praxis herunter steigt. Vischer interessieren als erstes die Compositionsgesetze, und davon dann vor allem das des Contrasts. Kontrast ist für Vischer eine Voraussetzung dafür, dass das Interesse des Zuschauers geweckt wird. (Natürlich wird der Literaturwissenschafter Vischer den Kontrast dann vor allem an den Clowns in Shakespeares Dramen erläutern, allen voran dem in König Lear. Er zeigt auf, dass der Narr König Lears nur die Narrheit bzw. Verrücktheit des alten Lear vorweg nimmt. Doch auch die Komposition von Romeo und Julia rühmt er einmal mehr, wo es der Kontrast ist von zarten Liebesszenen und aufbrausend-aufschneiderischem Kampfesmut, den uns vor allem Romeo vorführt.) Die Improvisation scheidet für Vischer dann volkstümliche Kunst von der Kunst des ‚wahren‘ Künstlers, der sich über eben diese hinaus hebt – vielleicht mit Improvisation beginnt, aber dann Gesetze festzulegen beginnt. Das führt Vischer in einem logischen weiteren Schritt zur Technik, wo er eine fast handwerksmässige Dreiteilung beim Künstler feststellt: reines Handwerk, Spiel und Wisssenschaft sind die drei Stufen, die der Künstler in seiner Entwicklung (idealerweise) durchläuft. Zum Schluss des Ersten Abschnitts liefert Vischer die versprochene Theilung der Kunst in Künste, die sich am mehr oder minder hohen Masse orientiert, mit der sich die jeweilige Kunstform von der Materie gelöst hat, oder (anders gesagt) die Phantasie des Rezipienten in Anspruch nimmt. Vischer nennt das – hier wieder in Hegel’sche bzw. Schelling’sche Terminologie verfallend – den Unterschied von objektiven und subjektiven Künsten. Er wird im Folgenden des Dritten Theils dieser seiner Einteilung folgen, und so ist es keine Überrraschung, wenn in Band 3.1 nunmehr der Übergang kommt zu dem, was Vischer
Zweiter Abschnitt. Die Künste.
nennt, und wo er nun die einzelnen Künste der Reihe nach behandelt, beginnend mit der ‚objektivsten‘, der Architektur, oder – wie sie bei Vischer heisst – der Baukunst als Unterform der bildenden Künste im Allgemeinen:
Erste Gattung. Objective Kunstform oder die bildenden Künste.
Alle bildenden Künste werden nämlich im ersten Band nicht Platz finden. Bei seiner Explikation der Baukunst liefert Vischer allerdings nicht viel mehr als eine Architektur- bzw. Stil-Geschichte, auch wenn er das nicht wahr haben will und in der Einführung noch Kapitelüberschriften einführt wie Das Material, Die Haupttheile des Baus, Die Linien, Die Hauptrichtungen, Die Composition, Das Ornament, etc., etc. Die Geschichte der Baukunst nimmt aber einen grossen Raum des Zweiten Abschnitts ein – eine Geschichte, die Vischer doch recht originell mit der orientalischen Baukunst beginnen lässt, bevor er dann über die griechische und römische zur Baukunst des Mittelalters kommt. Wie gern würde er hier – sagt er – bei den anheimelnden Bauten der Schweiz oder der Stadt Nürnberg verweilen, aber sein Auftrag schickt ihn zu den Repräsentativbauten, den Tempeln und Kirchen. Romanik und Gothik kennt schon Vischer, er liefert jenem wenig Neues, der im 20. Jahrhundert einmal eine Geschichte des europäischen Kirchenbaus zur Kenntnis genommen hat, und sei es als Exkurs im Gymnasium. Zuletzt, fast etwas atemlos, kommt Vischer zur modernen Baukunst, die er bei der Renaissance anheben lässt; zur zeitgenössischen Architektur des 19. Jahrhunderts sagt Vischer wenig Erhellendes. Eine Coda ist unter dem Titel Die untergeordnete Tektonik dem Kunsthandwerk gewidmet, oder, wie wir heute sagen würden, dem Design von Gebrauchsgegenständen.
Von den auf litteratur.ch schon besprochenen berühmten Architekten früherer Zeiten wird Palladio gar nicht, Vitruv nur ein einziges Mal genannt – was auch zeigt, wie sehr sich selbst in der Geschichte der so statischen Kunstform ‚Architektur‘ im Laufe der Zeit die Schwerpunkte ändern können. Für Vischer heisst der Star unter den Architekten – L. da Vinci.