Sir Hardy Amies: Das kleine Buch der Herrenmode

And now to something completely different. … Obwohl … Man könnte das Gebiet der Mode durchaus als einen Zweig der philosophischen Disziplin der Ästhetik sehen – F. Th. Vischer hat sie ja tatsächlich in seinem gewaltigen Text zur Ästhetik erwähnt.

Sir Hardy Amies wäre allerdings wohl recht überrascht, würde man ihn als Philosophen bezeichnen. 1909 geboren, arbeitete er sich im Schneiderhandwerk auf höchste Stufen hinauf, wurde bei ihrer Thronbesteigung Hofschneider von Königin Elisabeth II.,  was er bis zu seiner Pensionierung 1989 blieb. Sein Einfluss auf die Mode ist nicht unerheblich, und selbst der modisch weniger Interessierte wird die eine oder andere seiner Kreationen kennen: Sir Hardy entwarf nämlich auch Kostüme für Film und Fernsehen. Von ihm stammen die futuristischen Anzüge in Stanley Kubricks 2001 – Odyssee im Weltraum; er hat die Melone zumindest vorübergehend wieder populär gemacht, indem er Patrick Macnee in der TV-Serie The Avengers (zu deutsch: Mit Schirm, Charme und Melone!) mit ebendieser Kopfbedeckung als Erkennungsmerkmal ausstattete. 2003 verstarb er – nicht ohne uns das vorliegende kleine Büchlein, das er 1964 veröffentlichte, als Vermächtnis zu hinterlassen.

Doch warum sollte man heute ein über 50 Jahre altes Buch über Herrenmode lesen – wenn gerade in der Mode doch alle Phänomene und Trends so flüchtig sind? – Vielleicht gerade deshalb.

Sir Hardys Ausführungen sind nämlich sehr erhellend für eine Epoche, die die Erschütterungen der sog. 68er Jahre bereits zu spüren begann. Die Beatles werden in diesem Buch dafür gelobt, dass sie den Mut haben, Jacketts mit extrem breiten Revers zu tragen. Sir Hardy erkennt zu Recht in den Beatles kommende Stil-Ikonen, zu Unrecht aber geht er davon aus, dass sich Anzug, Hemd und Krawatte als Standard-Business-Bekleidung halten würde. Wenn man die Rockstars in ihren ganz jungen Jahren sieht, darf einen das nicht wundern. Sie tragen alle noch Anzug-Hemd-Krawatte, selbst wenn ihre Musik und der Text ihrer Songs schon rebellischer sind, als bei der vorhergehenden Generation.

Es ist überhaupt so eine Sache mit Prophezeihungen. Wenn Sir Hardy das Ende des Halbschuhs gekommen sieht, der von hochhackigen Stiefeln auch beim Mann abgelöst werden soll, so generalisiert er da einen Trend, der (wie wir heute wissen) recht kurzlebig war: Diese Stiefel werden heute als Modetorheit der frühen 1960er belächelt.

In andern Fällen spürt man, wie sich Sir Hardy gegen einen Trend auflehnt, ohne es zugeben zu wollen. Der Mann trägt für ihn – zumindest ausserhalb des eigenen Grundstücks – grundsätzlich nicht nur Anzug und Krawatte. Er trägt auch Hut. Der Hut führte aber bereits 1964 eigentlich nur noch Rückzugsgefechte; heute ist er auch in England aus dem Strassenbild sozusagen verschwunden, auch wenn gewisse Trends unter jungen Leuten ihn wieder ins Spiel bringen. Der Hut ist (leider) tot – aber vielleicht liege ich mit meiner Prophezeihung ebenso falsch, wie Sir Hardy mit den seinen.

Übers ganze Buch hinweg sieht man immer, wie sich der in punkto Mode übrigens keineswegs einfach konservative Amies (er akzeptiert den aufkommenden Rollkragenpullover nicht nur – er findet ihn sogar eine gelungene Alternative zum Hemd, andererseits will er das heute allgegenwärtige T-Shirt nur in weiss akzeptieren – und nur unterm Hemd getragen) gegen den Zusammenbruch von Traditionen und Gepflogenheiten wehrt, der in den frühen 1960ern bereits spürbar war, und der am Ende dieses Jahrzehnts zu den ersten grossen Jugendunruhen des 20. Jahrhunderts führen und nicht nur in Musik und Mode das Bild der Welt verändern sollte. Sir Hardy Amies findet sich da in der Position so manches ‚Erwachsenen‘, der Teile einer Umwälzung erkennt, Teile davon akzeptiert oder mindestens toleriert, anderes aber mehr oder minder offen ablehnt.

Der Text ist in Form kurzer, alphabetisch geordneter Beiträge zu Themen wie Melone, Mackintosh oder Manschettenknöpfe verfasst. Oft – vor allem, wenn Sir Hardy weiss oder spürt, dass er sich in der Defensive befindet – formuliert er beissend sarkastisch. Somit auch zum Lesen ein Vergnügen. Und als Nachschlagewerk tatsächlich ebenfalls verwendbar, z.B., wenn Sie schon immer wissen wollten, was ein Raglan-Mantel tatsächlich ist.


OT: ABC of Men’s Fashion. Übersetzt von Christian Herschmann. Hamburg: Eden Books, 2015.

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