Notizen zu einer Vorlesung, oder vielleicht auch zu einem noch zu schreibenden Buch: Diesen Eindruck vermittelt Aristoteles‘ Poetik dem Leser.
Der Text wirkt fragmentarisch. Der fragmentarische Charakter der Poetik liegt dabei m.M.n. weniger in der Tatsache begründet, dass Aristoteles von den zu Beginn genannten vier poetischen Textsorten Epos, Tragödie, Komödie, Dithyrambendichtung die letzten beiden dann nicht mehr behandelt. Es mag sein, wie in der Forschung angenommen wird, dass uns da heute wirklich das Ende fehlt. Dieses muss aber ziemlich kurz gewesen sein. Die Wichtigkeit einer gross angelegten Theorie des Komischen oder des Lächerlichen, auf der Umberto Eco einen Teil der Spannung von Der Name der Rose aufbaut, wird es nie gehabt haben. Aristoteles hat im vorhandenen Text alles Wichtige gesagt, was es zur Dichtung seiner Tagen zu sagen gibt, wo die Komödie als eine untergeordnete Dramen-Gattung galt.
Das Fragementarische der Poetik liegt vielmehr darin begründet, dass Aristoteles vieles nennt, weniges genau ausführt – dafür aber einen Exkurs in die griechische Grammatik abliefert, der völlig fehl am Platze ist, und heute allenfalls wissenschaftsgeschichtliches Interesse weckt als Beispiel früher Beschäftigung mit linguistischen Themen. In der eigentlichen Poetik ist die Mimesis, die Nachahmung als Definitionsgrundlage der Dichtung noch so einigermassen ausgeführt, es fehlt aber eine genaue Definition des rezeptionsästhetisch und somit ethisch zentralen Punkts der durch Schauder und Mitleid erregten Reinigung im Zuschauer, der Katharsis. Bis heute geben diese Begriffe Anlass zu Diskussionen – nicht zuletzt auch deshalb, weil die antiken griechischen Begriffe sich kaum mehr in eine moderne Sprache übersetzen lassen. Zu sehr hat die christliche Religion diese Begriffe erfasst und in ihre Sphäre umgebogen.
Aristoteles, als genuin griechischer Denker, kann sich jede Form der Dichtkunst nicht anders als klassisch-vollendet denken. Epos wie Drama haben zwar eine Entwicklung hinter sich, beide Dichtungsarten sind aber irgendwann einmal in ihrer Art vollendet worden. Diese vollendete Form zu beschreiben, ist seine, des Philosophen, Aufgabe. In dieser vollendeten Form weiter zu dichten, ist der Autoren Arbeit.
Vor allem im Drama kann Aristoteles diese Entwicklung noch übersehen und nachvollziehen: Aischylos hat die Rolle des Chors zurückgedrängt und einen zweiten Schauspieler auf die Bühne gebracht; Sophokles einen dritten Schauspieler und Änderungen am Bühnenbild (Einführung technischer Hilfsmittel, der sog. Maschinen); Euripides schliesslich verpasste der Tragödie ihren Feinschliff. (Aristoteles‘ Beschreibung dieser Entwicklung leidet ein bisschen darunter, dass nicht alle Dramen der grossen Drei, auf die er sich bezieht, überliefert sind – die Dramen weiterer Autoren meist schon gar nicht. Manchmal wissen wir heute nicht mehr über diese Autoren als den Namen, und den nur, weil Aristoteles ihn hier genannt hat.)
„Drama“ ist bei Aristoteles fast ausschliesslich Tragödie. Die Komödie kann nämlich nicht zeigen, wie wie ein ethisch guter, aber nicht vollendet guter Charakter (Aristoteles ist auch hier ein Mann der Mitte!) einen Umschlag vom Glück ins Unglück erlebt, und zwar nicht wegen seiner (des Charakters) Schlechtigkeit oder Gemeinheit, sondern wegen einer Fehleinschätzung der aktuellen Situation. Das klassische und bis heute bekannte Beispiel ist Sophokles‘ Ödipus. Diesen Umschlag vom Glück ins Unglück meint Aristoteles, wenn er den Zuschauer Mitleiden empfinden lassen will.
Das korrekt gedichtete Drama (= die Tragödie!) ist nach Aristoteles dem Epos überlegen, weil in diesem Drama ein scharf begrenzter Handlungsstrang dargestellt wird. Das Epos kann und wird mehrere (allerdings ihrerseits immer noch scharf begrenzte!) Handlungsstränge nebeneinander aufbauen. Eine Begrenzung gilt zwar auch fürs Epos – klassisches Beispiel ist für Aristoteles die Ilias, wo Homer keineswegs die ganzen 10 Jahre der Griechen vor Troja erzählt, sondern einen scharf umrissenen Ausschnitt, den Zorn des Achilles. Allerdings wird Homer hin und wieder ab- bzw. ausschweifen, z.B. im berühmten Schiffskatalog. Aristoteles definiert die genaue Form seiner Begrenzung nirgends. Die berühmt-berüchtigten drei Einheiten stellen eine Interpolation der Renaissance dar und sind vor allem im klassischen französischen Drama angewendet worden. Die relative Unbestimmtheit, in der Aristoteles seinen begrenzten Handlungsstrang liess, hat zwar eine Zeitlang den Engländer Shakespeare nicht nur im französischen, sondern auch im deutschen Sprachraum in Ungnade fallen lassen (z.B. bei Gottsched), aber auch späteren Kritikern die Gelegenheit gegeben, aufzuzeigen, dass der Engländer Aristoteles‘ Kriterien durchaus erfülle. Heute ist dieser Streit hinfällig. Seit der Romantik sind wir daran gewöhnt, auch quasi unendliche Handlungen und welche ohne scharfe zeitliche, örtliche oder inhaltliche Begrenzungen zu akzeptieren.
Deswegen ist eine Lektüre von Aristoteles‘ Poetik keineswegs überflüssig geworden. Bis heute wird sich jede Dramentheorie implizit oder explizit mit der des Aristoteles auseinander setzen müssen.
Gelesen in der 1961 bei Reclam erschienenen, von Olof Gigon herausgegebenen, übersetzten und kommentierten Ausgabe (= RUB 2337).
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