Beim Aufräumen gefunden: ein uraltes*) Reclam-Bändchen; Einleitung und Anmerkungen von Dr. Curt Woyte, Übersetzung von J. J. C. Donner.
Nein, eine Tragödie – wie es das Titelblatt angibt – ist das nicht. Der Ablauf der Geschichte ist wohlbekannt: Orest und Pylades landen auf der Insel Tauris. Orest hat soeben seine Mutter erschlagen, die wiederum seinen Vater Agamemnon, König von Mykene und Rückkehrer aus der zehnjährigen Schlacht um Troja, getötet hat. Um die Götter zu entsühnen, wurde Orest nach Tauris geschickt, von wo er das Bildnis der Göttin Artemis nach Hause bringen soll. Orests Schwester Iphigenie ist als Oberpriesterin der Artemis auf Tauris tätig: Die Göttin hat sie höchstpersönlich dorthin ‚entführt‘, als ihr Vater sie den Göttern als Opfer darbringen wollte, um der Reise nach Troja Glück zu bringen. Bruder und Schwester erkennen sich. Sie hecken einen Fluchtplan aus, der aber beinahe scheitert. Erst das direkte Eingreifen der Artemis, die dem König der Taurer, Thoas, den expliziten Befehl gibt, die drei mitsamt ihrem Bildnis laufen zu lassen, sichert ihr Entkommen. Neben Euripides‘ Drama sind uns wohl noch Goethes Bearbeitung des Stoffs präsent und die Oper Glucks – es gibt aber viel mehr davon.
Bei Euripides‘ Version sind zwei Dinge bemerkenswert. Da ist zum einen der Chor, der nicht einfach mehr nur Kommentator der Ereignisse auf der Bühne ist, sondern aktiver Partizipant. Das erreicht Euripides dadurch, dass der Chor aus jungen Frauen gebildet ist, die ihrerseits – ähnlich wie Iphigenie selber – aus Griechenland nach Tauris entführt wurden. Diese jungen Frauen sympathisieren natürlich mit den Fluchtplänen von Iphigenie & Co. und versuchen aktiv die Hirten, die dem König Thoas von der Flucht der Drei erzählen wollen, in die Irre zu führen. Als Dank dafür (?) wird Artemis von Thoas verlangen, dass er die Frauen ebenfalls heimkehren lasse.
Daneben ist es religionsgeschichtlich interessant, wie Euripides‘ Götter ganz klar gegen Menschenopfer zu Felde ziehen. Agamemnon hat sich sein Schicksal (auch) deshalb zuzuschreiben, weil er bedenkenlos auf angeblichen Befehl der Göttin Artemis seine Tochter auf dem Altar schlachtete. (Dass Iphigenie überlebt, verdankt sie dem direkten Eingreifen der Artemis.) Und später will das Bildnis der Artemis zurück in ‚zivilisierte‘ Verhältnisse, da es sich durch das an seinem Altar in Tauris vergossene Blut kompromittiert sieht. In dieser Hinsicht ein auch heute noch gültiges Thema.
*) Tendenziell werden Bücher, die eine Generation älter sind als der Leser / die Leserin immer schon als „uralt“ qualifiziert. Die jüngste Generation von Lesern / Leserinnen nennt dehalb unterdessen bereits Bücher „uralt“, die gedruckt wurden, als ich durchaus schon gehen und selbst ein bisschen lesen konnte. Das vorliegende Reclam-Bändchen muss 1926 oder später veröffentlicht worden sein; Dr. Woytes Einleitung ist datiert mit Leipzig, im Januar 1926.
Witzig aber der einliegende Werbe-Flyer (ja, das gab es auch damals schon!). Radios zum Selberbasteln einem antiken griechischen Drama beigelegt … Auch die Rückseite beschäftigt sich mit dem relativ neuen Medium des Rundfunks. Um Opern und Theaterstücken am Radio besser folgen zu können, empfiehlt der Reclam-Verlag die Lektüre der hauseigenen Textbücher.