Miguel de Cervantes Saavedra: Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda

Los trabajos de Persiles y Sigismunda, historia setentrional erschien 1617, nach dem Tod des Autors, der sich bekanntlich dieses Jahr zum 400. Male jährt. Wir haben Cervantes‘ letztes Werk vor uns. Der Autor hielt es auch für sein bestes. Ist es das wirklich?

In spanischsprachigen Ländern werden Die Irrfahrten als ’novela bizantina‘ oder ‚libro de aventuras peregrinas‘ bezeichnet. Diese Literaturgattung führt sich, wie schon ihr Name sagt, zurück auf die Spätantike, das Byzantinische Reich (Ostrom), in dem Griechisch gesprochen wurde, und hatte ihren Höhepunkt im 12. Jahrhundert. Ein Rückgriff aufs 12. Jahrhundert klingt bei einem Autor, der mit Don Quijote eben erst den Ritterroman seiner Zeit endgültig aus der Welt geschafft hat, merkwürdig genug, aber wir finden tatsächlich sehr viele Anklänge an den Romancier der griechischen Spätantike, Heliodor, und sein Werk Aithiopika (Αἰθιοπικά). (Das in meinem Bücherschrank unter dem Titel Die Abenteuer der schönen Chariklea steht.)

Wie bei Heliodor wird bei Cervantes der Leser wird mitten in einen dramatischen Punkt der Handlung geworfen. Erst nachdem das einmal abgehandelt ist, und die Geschichte in ruhigeres Fahrwasser eingetreten, erfährt der Leser nach und nach die Vorgeschichte. Dies geschieht allerdings immer nur häppchenweise, als Binnenererzählung einzelner Figuren, wenn die Rahmengeschichte gerade eine Pause macht. Wie bei Heliodor schwenken die Rückblenden der Binnenerzählungen dann irgendwann in die Zeitachse der Rahmenerzählung ein; der Strom der Binnenerzählungen versiegt, und wir folgen nun monokausal der Haupt-Zeitachse. Wie bei Heliodor geht die Reise der Protagonisten von Norden nach Süden.

Anders als bei Heliodor sind allerdings die Bedeutungen der Himmelsrichtungen eingerichtet. Der Norden ist barbarisch, weil protestantisch. Ausserdem ist Cervantes‘ Geografie im Norden recht abenteuerlich. Wohl kannte er seinen Olaus Magnus (er stibitzt von ihm u.a. auch ein Seeungeheuer!), aber das hindert ihn nicht, fiktive Inseln zu platzieren oder auch Staaten und Inseln zu direkten Nachbarn zu erklären, die in der damaligen Realität mehrere Tagesreisen auseinander lagen. Im Übrigen sind die Einwohner der nordischen Inseln allesamt Wilde. (Ihre Sitten und Gebräuche allerdings erinnern bedeutend mehr an Dinge, wie sie zu Cervantes‘ Zeit aus dem Mund der Conquistadores über die amerikanischen Ureinwohner zirkulierten.)

Unsere Protagonisten sind Pilger, echte Pilger sogar – zumindest insofern, als dass es sie allesamt nach Rom, der Hauptstadt des Katholizismus, zieht. In der zweiten Hälfte des Romans halten wir uns deswegen im Süden Europas auf: Unsere Reisegruppe zieht von Portugal über Spanien und Frankreich nach Italien. In Rom erst erfolgt die völlige Auflösung des Rätsels um Persiles und Sigismunda, die Auflösung des Rätsels zum Beispiel, warum wir im ganzen Roman zwar einen Periandro und eine Auristela antreffen, aber trotz des Titels keinen Persiles und keine Sigismunda.

Die ’novela bizantina‘ ist nicht nur die Mutter des modernen Liebesromans (und vor allem der ‚telenovelas‘ – jener die Geschichte potentiell ins Endlose ziehenden TV-Serien, deren Hauptthema Herz und Schmerz der (meist weiblichen) Protagonistin ist). Lesen wir folgenden Abschnitt aus den Irrfahrten – Periander erzählt:

Daher ging ich mehr spontan als infolge reiflicher Überlegung zum Hengst, schwang mich ohne Fuß im Steigbügel, da es keinen gab, auf seinen Rücken und stürmte unaufhaltsam, da ohne Zaum, mit ihm los, bis wir die Spitze einer zum Meer hin überhängenden Klippe erreicht hatten. Dort drückte ich ihm abermals die Schenkel in die Weichen und zwang ihn zu meiner Freude und gegen seinen Willen, sich aus luftiger Höhe mit mir in die Fluten hinabzustürzen.

Periandro will das Wagestück sogleich wiederholen:

Ich kehrte mit dem Pferd ans Ufer zurück, erklomm abermals auf dem gleichen Weg wie zuvor mit ihm die Klippe und trieb es an, erneut zu springen, doch vergebens. […] Am Ende war der Hengst vom Kopf bis zu den Hufen derart in Angstschweiß gebadet, dass der wilde Löwe in ihm plötzlich zum zahmen Lämmchen und der nicht zu bändigende Wildfang zum edlen Reitpferd geläutert war.

Wer würde dabei nicht an Geschichten denken, die Old Shatterhand erzählt, wie er wilde Mustangs und Indianerpferde ‚gebrochen‘ hat? Auch der Abenteuerroman weist viele Parallelen zur ’novela bizantina‘ auf, nicht nur in den ebenfalls potenziell endlosen Iterationen von Gefangen-werden-sich-wieder-befreien-und-seine-Gegner-besiegen-aber-wieder-gefangen-Werden, sondern auch in der Tatsache, dass seine Helden – zumindest in der naiven Form des Abenteuerromans früherer Jahrhunderte – auch immer die Besten, Stärksten, Schönsten sind.

So weit, so gut. Allerdings hebt das Cervantes‘ Roman kaum über das damals übliche Mittelmass hinaus. Schauen wir aber genauer hin, sehen wir, wie der Autor immer wieder – entweder aus seiner Situation als auktorialer, alles wissender und alles kommentierender Erzähler, oder auch aus dem Mund seiner Figuren – in die Metaebene wechselt und das Geschehen so glossiert:

Mauricio fiel es schwer zu glauben, dass der kühne Sprung des Hengstes so völlig ohne Verletzungen verlaufen sein sollte. Ihm wären drei oder vier Beinbrüche lieber gewesen, womit Periandro die Bereitwilligkeit seiner Zuhörer, ihm einen derart aberwitzigen Sprung abzunehmen, nicht so sehr strapaziert hätte.

Doch selbst auf der reinen Ebene der Erzählung ist Cervantes doppelbödig. Da ist zum Beispiel Rom, das erklärte Ziel der Pilgerschaft von Persiles und Sigismunda – Ziel deswegen, weil die aus dem Norden stammende Sigismunda dort komplett die Sitten und Gebräuche des katholischen Glaubens kennen lernen und annehmen will. bevor sie dann Persiles heiratet. Doch bei genauerem Hinsehen ist Rom eine Stadt der Huren und der Zuhälter, der gedungenen Mörder und bösartigen Zauberinnen, von Hehlern und korrupten Magistraten. Das Ziel der Reise wird nachgerade konterkariert, weil einerseits Persiles den Gefahren der Grossstadt fast erliegt, andererseits Sigismunda – trotz alledem – in einem Akt katholischer Verzückung ihrem Geliebten gesteht, dass sie nun ins Kloster gehen und Nonne werden will. Praktisch in letzter Sekunde erfolgt die Heirat dennoch – aber nicht durch die Segnung eines Priester und in der Kirche, sondern irgenwo draussen in der Vorstadt, in einer staubigen Strasse und durch die Segnung des sterbenden Bruders von Persiles.

So ganz katholisch scheint Cervantes ja nicht gewesen zu sein…


Gelesen in der Übersetzung von Petra Striem, mit einem Beitrag Gerhard Poppenberg zu diesem Roman erschienen 2016 in der Anderen Bibliothek, Bd. 376.

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