Karl Raimund Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I

Eines der wichtigsten Werke des 20. Jahrhunderts, ein Werk, das nichts von seiner Aktualität verloren hat und das in seiner Klarheit und kompromisslosen Absage an alle Menschheitsbeglücker beispielgebend ist.

„Wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur einen Weg, den Weg in die offene Gesellschaft.“ Und weiter: „Wir müssen ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten und die Vernunft, die uns gegeben ist, verwenden, um, so gut wir es eben können, für beides zu planen: nicht nur für die Sicherheit, sondern zugleich auch für die Freiheit.“ Diese Schlusssätze des ersten Teiles sollten sich all jene hysterischen Sicherheitsfanatiker ins Stammbuch schreiben, die gerade eben im Begriffe sind, unsere Freiheit (im Namen der Freiheit) einzuschränken – im unsinnigen Glauben, dass wir für vermeintliche Sicherheiten Opfer bringen sollten.* Das Gleichgewicht zwischen staatlichen Eingriffsmöglichkeiten und individueller Freiheit (die konstituierend ist für das, was wir Demokratie nennen), verschiebt sich zusehends in Richtung Überwachungsstaat: Und den Glauben, dass die vorhandenen Möglichkeiten, so sie einmal dem Staat eingeräumt wurden, von diesen unseren westlichen Demokratien doch nicht zum Nachteil der Bürger genützt würden, kann ich nicht teilen. Im Gegenteil, es liegt im Grunde auf der Hand, dass eine Regierung alle Möglichkeiten ausschöpfen wird, um die von ihnen geplanten Maßnahmen durchzusetzen und gegen Gruppen vorzugehen, die die entsprechenden Regelungen bekämpfen. Wenigstens scheinen mir nur wenige Politiker in dem Ausmaß vertrauenswürdig, dass ich ihnen das Ausnützen von einmal – im Kampf gegen den Terrorismus jedweder Couleur – gewährter Rechte nicht auch in anderen Belangen zutrauen würde.

Die offene Gesellschaft, das ist für Popper jene Gesellschaft, in der ein Höchstmaß an individueller Freiheit verwirklicht werden kann. Das impliziert selbstverständlich keine Gesetzlosigkeit: Aber es bedeutet vor allem, dass die Gesetze nicht primär zur Erhaltung des Staates dienen sollen, sondern der Gewährung individueller Freiheiten. Dass diese auch Einschränkungen unterliegen (müssen) ist offenkundig – und das Ausmaß der Beschränkungen wird man immer wieder von neuem festlegen, diskutieren müssen. Unsere staatlich-politisch-moralischen Bestimmungen sind im Gegensatz zu Naturgesetzen von uns allein abhängig, ihre Änderungen erfolgen nicht aufgrund empirischer Fakten (wie bei den Naturgesetzen), sondern weil wir, die Gesellschaft, dies für richtig und notwendig erachten.

Im Gegensatz zu diesem offenen Konzept steht die geschlossene Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der Gesetze einen absoluten Charakter haben (der etwa religiöser, teleologischer Natur sein kann) und daher weder geändert noch kritisiert werden dürfen. Damit verbunden ist eine fest vorgegebene gesellschaftliche Struktur, aus der nicht ausgebrochen werden kann: Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse ist für immer festgelegt, die Rolle des Einzelnen wird durch den Primat des Kollektivs bestimmt. Es waren alte Stammesgesellschaften, die auf diese Weise ihre Existenz sicherzustellen suchten – und es sind die historizistischen Utopien (wie die diversen tausendjährigen Reiche, die Herrschaft des Proletariats oder die eines auserwählten Volkes, einer auserwählten Rasse), die ähnlich verfahren.

Als Beispiel dient Popper der Staat Platons, der seinerseits diesen Staat nach dem Vorbild Spartas ausgestaltet hat. Der ideale Staat ist für Platon der erste, der ursprüngliche Staat, jede Veränderung ist nur eine Veränderung zum Schlechten. Und so strebt der Entwurf Platons nach Stabilität, nach Unveränderlichkeit, seine Klassen der Wächter, Krieger und Arbeiter (bzw. Sklaven) sind sozial undurchlässig – und noch mehr: Der Bestand des Staates hängt von der Abgrenzung dieser Klassen ab, ist für sein Bestehen grundlegend. In diesem Staat ist das Kollektiv alles, das Individuum dient seiner Erhaltung, ist aber selbst nur ein – hoffentlich perfekt funktionierendes – Rädchen in diesem Getriebe. Und wo keine Veränderung stattfinden soll, darf auch nicht kritisiert, darf nicht frei gehandelt werden: Niemand soll – nach Platon – je ohne Führer sein.

Dieser Staat hat im 20. Jahrhundert Wiederauferstehung gefeiert: Sowohl faschistische als auch kommunistische Diktaturen haben sich genau dieser Ideen bedient (ohne sie möglicherweise zu kennen). Sahen sie ihr Ziel in der Zukunft, hat Platon für diese Zukunft eine ideale Vergangenheit beschworen (wie auch schon Rousseau): Immer aber ist es ein paradiesisch gedachter Gesellschaftszustand, eine wunderbare Utopie, die nur leider all diejenigen vergisst und missachtet, die in diesem utopischen Staat leben sollen. Darin steckt stets ein nicht zu unterschätzender Teil Arroganz: Wie schon bei Platon die Philosophen regieren sollen (und damit implizit die Klügsten – und wohl auch Platon selbst – damit gemeint sind), leben sämtliche Idealstaaten davon, dass irgendwer zu wissen vorgibt, was denn nun das Beste für die Menschen sei. Dass der Klügste regieren möge klingt vordergründig einleuchtend, ist aber aus mehreren Gründen Unsinn: Zum einen wird kaum Einigkeit darüber zu erzielen sein, wer denn nun dieser Klügste sei – und selbst wenn dies feststellbar wäre, so scheint es höchst zweifelhaft, dass Klugheit tatsächlich zum Regenten tauglich macht (schon Kant hat hier Zweifel geäußert und etwas, das er als „guten Willen“ bezeichnete, über die Klugheit gestellt: Denn diese lässt sich sowohl für Gutes und Schlechtes instrumentalisieren). Popper hält die Fragestellung nach dem „wer soll regieren“ mit Recht für verfehlt: Vielmehr ist es für das Wohl des Staates von größter Wichtigkeit, dass ein gewaltfreier Regierungswechsel verfassungsmäßig gewährleistet wird, um mögliche „schlechte“ Regenten ohne Blutvergießen wieder loswerden zu können.

Das Problem von Utopien liegt weiters darin, dass ihre Verwirklichung zumeist sehr rigide, alles Bisherige beseitigende Maßnahmen erfordert. Die Berechtigung solcher Maßnahmen lässt sich nur durch die Richtigkeit der Utopie begründen: Da wir aber fehlbar sind, ist eine solche Gewissheit selbst utopisch. Das folgt auch aus ganz pragmatischen Gründen: Wir müssten zu diesem Zweck in die Zukunft sehen können, wir müssten wissen, was wir irgendwann wissen werden, jeder Erkenntnisfortschritt wäre somit ein Unding. Nun hat uns aber unsere Geschichte bisher gezeigt, dass wir kaum von irgendetwas weniger Ahnung zu haben pflegen als von der fernen Zukunft: Weshalb wir uns mit unseren Maßnahmen kleine, zeitlich klar umrissene Ziele setzen und ständig das Ziel selbst als auch den Weg dorthin hinterfragen sollten (Poppers „piecemeal engineering“). Dieser bescheidene Ansatz garantiert zwar keinen Idealstaat, noch nicht einmal tatsächliche Fortschritte, er verhindert aber durch die permanente Kontrolle unserer Ziele jene unzähligen Opfer, die etwa die kommunistischen Zukunftsträume forderten. Denn diese Opfer konnten argumentativ durch das große, hehre Ziel stets gerechtfertigt werden, sie wurden als notwendig für das große Ganze erachtet. Aber ich glaube (mit Popper) nicht, dass wir jemals das Opfer eines anderen – für welches Ziel auch immer – rechtfertigen können (hingegen können wir selbst aufgrund von Überzeugungen unser eigenes Leben hingeben): Auch hier ist auf Kant zu verweisen, dass ein Mensch niemals Mittel, immer nur Zweck sein darf. (In realiter bestimmen zumeist Eliten darüber, wer da geopfert wird: Wobei es seltsamerweise niemals die Elite selbst ist, die mit ihrem eigenen Leben für die hehren Ziele einsteht).

Popper geht mit Platon und seinem Idealstaat hart ins Gericht: Was ihm viel Kritik eingetragen hat – unter anderem auch den Vorwurf, dass Platons Gesellschaftsentwurf im historischen Kontext gesehen werden müsste. Das stimmt sicherlich, ändert aber nichts an der Tatsache, dass es sich bei Platons Konzeption um einen Überwachungsstaat handelt, um ein rassistisches System, in dem freie Meinungsäußerung oder freie Selbstbestimmung mit dem Tode bestraft werden (in diesem Staat wäre der von ihm verehrte Sokrates aus den gleichen Gründen wie im historischen Prozess zum Tode verurteilt worden: Weil er durch seine ganze Existenz immer zur Kritik, zum Hinterfragen aufgefordert hat, was ihm bekanntlich den Vorwurf einbrachte, dass er die „Jugend verderbe“, eine Kritik, für die auch Platon in seinem Staat den Tod vorsieht – und paradoxerweise seinen „Sokrates“ dies argumentativ belegen lässt).

Die Kritik an Geistesheroen wie Platon wird vor allem von Philosophieprofessoren (und hier besonders von Philosophiehistorikern) mit Entrüstung zurückgewiesen: Ich glaube, dass hier (an dieser seltsamen Heldenverehrung) einer der entscheidenden Gründe für den Stillstand der Philosophie liegt. Man nähert sich den antiken Denkern mit größter Ehrfurcht, man betont ständig den historischen Kontext (selbst dort, wo das für die Sache an sich belanglos ist) und erzeugt damit eine Philosophiegeschichte, die tatsächlich nur noch aus „Fußnoten zu Platon“ (Whitehead) besteht. Schon oft wurde die seltsame Tatsache konstatiert, dass – während auf allen anderen Gebieten unglaubliche Fortschritte erzielt würden – man in der Philosophie eigentlich auf der Stelle trete und man – tatsächlich – nicht erkennen könne, worin der Fortschritt seit Platon bestehe. Das liegt sicherlich zum Teil am Fach selbst, zu einem nicht geringen Teil aber auch an diesem völlig unzeitgemäßen Respekt: Denn festzustellen, dass so gut wie alles, was – beispielsweise Platon – geschrieben bzw. gedacht hat, sich im Lichte heutiger Erkenntnisse als Unsinn erwiesen hat, ist ein philosophisches Sakrileg sondergleichen. Platons Staat ist – wie gezeigt wurde – totalitär (und für uns unannehmbar, wobei darauf hingewiesen werden muss, dass man auch damals nicht zwangsläufig derartige Konzepte vertrat: Perikles hat einen freiheitlichen Staatsgedanken vertreten, der von unseren Vorstellungen eines humanen Zusammenlebens sehr viel weniger abweicht), sein dualistisches Weltbild ist ebenso obsolet wie seine Vorstellung vom Menschen nebst unsterblicher Seele. Das heißt nicht, dass eine Untersuchung von Platons Gedankenwelt nicht eine philosophiehistorisch höchst spannende Angelegenheit sein kann, aber wir sollten bei aller Ehrfurcht vor dem großen Denker festhalten, dass sein Denken aus heutiger Sicht jeglicher Relevanz weitgehend entbehrt. Auch die Anerkennung der Leistungen eines Aristoteles ist nicht von seinen Ausführungen zum Problem der Geschwindigkeit abhängig: Sie in der heutigen Physik zu verwenden fiele niemandem ein. Darin steckt kein Vorwurf an diese Denker: Sie konnten es oft nicht besser wissen. Das hindert uns aber nicht an der Feststellung, dass wir es heute besser wissen und diese Tatsache auch aussprechen – müssen.**

Und so liegt eine großes Verdienst von Teil 1 der offenen Gesellschaft auch im Nachweis, dass Platons Staat ein für uns völlig inakzeptabler, totalitär-rassistischer Entwurf ist, dass die dort vertretenen Vorstellungen von Moral oder Gerechtigkeit allem widersprechen, was wir heute in Bezug auf Freiheit oder Gleichheit vertreten. Die Aktualität Platons besteht einzig darin, dass es auch in der Gegenwart immer noch (zahlreiche) Nationen gibt, die mit diesen totalitären Konzepten liebäugeln, Menschen gibt, die einen autoritären Staat propagieren und im Namen des Volkes (der Nation, der Rasse) zu sprechen vorgeben und die einer Einschränkung ihrer Freiheit zustimmen, um als Kollektiv „groß“ zu sein. Denn frei zu sein bedeutet immer auch Verantwortung auf sich zu nehmen, bedeutet persönliche Verantwortung zu tragen für demokratische Errungenschaften. Die Idee der Freiheit des Einzelnen ist nicht ohne Anstrengung, ohne Auseinandersetzung mit jenen Kräften zu erlangen, die diesen Anstrengungen ein fremdbestimmtes, vermeintlich geruhsames Leben vorziehen und zumeist zu spät erkennen, welches Ausmaß diese Fremdbestimmung annimmt.


*) Typisch dafür die Kommentare nach der Festnahme jener Personen, die einen Anschlag in der Düsseldorfer Innenstadt geplant haben: Obwohl diese Festnahme (wieder einmal) nicht durch allumfassende Überwachung (sondern durch herkömmliche Ermittlungsmethoden) möglich wurden, wird von den Nachrichtendiensten, den Innenministern eine weitergehende Vollmacht bezüglich der Kontrolle von Telekommunikationsdaten gefordert. Man ignoriert die Tatsache, dass es bislang nicht die geringsten Fahndungserfolge durch solche Maßnahmen gab, man fordert im Namen einer ohnehin nicht zu erreichenden absoluten Sicherheit Eingriffe in das Privatleben von jedermann, von denen die Stasi nur geträumt hat.

**) Glaubst du denn klüger zu sein als Platon? hört man darauf häufig erwidern. Aber das hat mit mehr oder weniger klug rein gar nichts zu tun: Platons Kosmologie ist schlicht falsch, Aristoteles Einteilung in Bluttiere und Blutlose durch falsche Überlegungen bedingt, die Urzeugung gibt es nicht. Wir wissen heute, dass diese Dinge falsch sind – und die jahrhundertelange kritiklose Verehrung, die vor allem Aristoteles (aber auch Platon) entgegengebracht wurde, hat viele Wissensfortschritte verhindert. Es darf keine Autoritäten geben, die kritikimmun sind, man muss ihre Irrtümer benennen und feststellen. Die allermeisten Ansätze zur Erklärung, „was denn die Welt im innersten zusammenhält“ haben bloß historischen Wert. In der Wissenschaftsgeschichte (wie in den Wissenschaften selbst) ist die geschichtliche Bedingtheit der Erkenntnisse eine Selbstverständlichkeit, einzig in der Philosophie wird derlei mit Majestätsbeleidigung gleichgesetzt.


Karl Raimund Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I. Tübingen: Mohr/Siebeck 1992.

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