Friedrich Stadler: Vom Positivismus zur „Wissenschaftlichen Weltauffassung“

Der Autor geht mit diesem Buch den „positivistischen“ Anfängen des Wiener Kreises nach und beschäftigt sich im ersten Teil im besonderen mit der Vaterfigur dieser Bewegung, Ernst Mach, als auch – und dies verdient der Seltenheit wegen hervorgehoben zu werden – mit dessen kongenialen Freund und wissenschaftlichen Wegbegleiter Joseph Popper-Lynkeus, der von der Philosophiegeschichte weitgehend mit Stillschweigen übergangen wird.

Mach war einer der ersten, die eine grundsätzlich einheitliche Methodologie für Naturwissenschaften und Philosophie propagierten. Sein konsequenter Sinnenempirismus, der eine Einheit von Psychologie, Physiologie und Physik vertrat, musste zwar in weiterer Folge abgemildert werden, war aber Grundlage für das von allen Vertretern des Wiener Kreises anerkannte empirische Sinnkriterium: Kann eine Aussage nicht erfahrungswissenschaftlich überprüft werden (wobei die Überprüfung auch auf indirektem Wege erfolgen kann), ist diese unwissenschaftlich und muss daher abgelehnt werden. Damit verbunden war auch eine kritische Haltung gegenüber dem von Kant vertretenen „Synthetischen a priori“: Solches ist per se eine Unmöglichkeit, einzig analytische (und somit tautologische) Erkenntnisse sind a priori möglich, jede synthetische Erkenntnis erfolgt a posteriori (erst sehr viel später ist in der analytischen Philosophie von Willard van Orman Quine dieser Ansatz in Zweifel gezogen worden). Der Phänomenalismus Machs hat aber nicht nur den Wiener Kreis inspiriert, sondern auch scharfe Kritik – vor allem von marxistischer Seite durch Lenin – herausgefordert, der mit seiner Schrift „Materialismus und Empiriokritizismus“ den Ansatz Machs als bürgerlich-idealistisch nachzuweisen suchte, ein Versuch, der im orthodoxen dialektischen Materialismus auf fruchtbaren Boden fiel (und bis 1989 vertreten wurde), bei den Denkern des Austromarxismus (Otto Bauer, Max Adler, Friedrich Adler) hingegen keine Anerkennung fand.

Der eigens in Wien für Mach – gegen den Widerstand klerikaler Kreise – geschaffene Lehrstuhl für „Philosophie, insbesondere Geschichte der induktiven Wissenschaften“ hat die empirisch-positivistische Tradition der Wiener Fakultät fortgesetzt und verfestigt; Ludwig Boltzmann (der zwar mit Mach bezüglich des Atomtheorie in Auseinandersetzungen verstrickt war) oder Friedrich Jodl (ein Monist der ersten Stunde) setzten seine, der Kantschen Philosophie kritisch gegenüberstehende, an Materialismus und Naturwissenschaften sich orientierende Philosophie fort. Und auch die Berufung von Moritz Schlick nach dem Ersten Weltkrieg ist als eine Fortschreibung dieses naturwissenschaftlich-philosophischen Denkens zu verstehen; erst der austrofaschistische Ständestaat hat 1934 dieser Entwicklung in Wien ein Ende gesetzt und die Philosophen des Wiener Kreises ins – hauptsächlich angelsächsische – Ausland getrieben.

Popper-Lynkeus war das soziialphilosophische Pendant zu Mach. Weniger an methodologischen Problemen interessiert befasste er sich in seinen revolutionär anmutenden Schriften mit politischen und gesellschaftlichen Problemen: Er forderte etwa die Abschaffung der Wehrpflicht, kämpfte gegen den klerikalen Einfluss im Staat, setzte sich für Pazifismus und eine kosmopolitische Einstellung ein und schuf mit seinem Werk „Die allgemeine Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage“ die Grundlage für eine – damals utopisch anmutende – Konzeption, die den Staat zu einer Art Grundeinkommen (in Naturalien) für jeden Bürger verpflichten sollte. Für Otto Neurath war Popper-Lynkeus einer der wichtigsten Ideengeber, Ideen, die er theoretisch weiter ausarbeitete bzw. in seiner kurzen politischen Tätigkeit auch in die Praxis umzusetzen versuchte.

Im Gefolge dieses Denkens kam es zu zahlreichen Gründungen von Gesellschaften oder Bünden, die vor allem der Volksbildung große Aufmerksamkeit widmeten. Wahrscheinlich hat keine philosophische Strömung je mehr in diesen Bereich investiert, wobei die Bandbreite von popularisierenden Vereinigungen bis zu eher elitär-wissenschaftlichen Gruppen reichte. Diese Popularisierungsbestrebungen fielen vor allem im „roten Wien“ auf fruchtbaren Boden und wurden – bis 1934 – politisch unterstützt. Diese – fruchtbare – Nähe zur Sozialdemokratie stellte sich aber nach der Machtübernahme der Austrofaschisten als fatal heraus: Sämtliche Organisationen wurden verboten, so auch der – von Friedrich Stadler im zweiten Teil ausführlich behandelte – „Verein Ernst Mach“, dessen Schriften sich auf einem sehr hohen, wissenschaftlichen Niveau bewegten. Der Versuch des Vorsitzenden des Vereins, Moritz Schlick, diese Auflösung zu verhindern, mag paradigmatisch sein für eine gewisse Weltfremdheit des Philosophen (Schlick war einer der wenigen, die dem sozialdemokratischen Engagement vieler Mitglieder des Wiener Kreises kritisch gegenüberstanden): In mehreren Briefen versucht er auf rational-argumentative Weise die staatlichen Stellen von den (nicht ganz unberechtigten) Vorwürfen der politischen Parteinahme zu überzeugen, nicht bemerkend, dass eine solche Auseinandersetzung mit der weitgehend diktatorisch handelnden Regierung gar nicht mehr möglich war. (Seine Ausführungen wurden zur Kenntnis genommen und als nicht stichhaltig befunden, am Verbot änderte sich nichts.)

Das Buch bietet für den einigermaßen mit dem Wiener Kreis Vertrauten einen sehr interessanten, historischen Überblick über die Wirkungsgeschichte der Machschen Gedankenwelt und befasst sich ausführlich mit dem – ansonsten kaum beachteten – gesellschaftlichen Engagement der Mitglieder des Wiener Kreises. Diese Engagement ist umso bemerkenswerter, als gerade den Neopositivisten (etwa aus der Frankfurter Schule) immer wieder eine bürgerlich-reaktionäre, elitäre Haltung zugeschrieben wurde, während aber tatsächlich der Volksbildung hier sehr viel größere Wichtigkeit beigemessen wurde als in linken, marxistischen Zirkeln. Aufklärung – auch der breiten Massen – war für die Vertreter des Wiener Kreises von eminenter Bedeutung: Kaum ein prominentes Mitglied, dass nicht zahlreiche Vorträge gehalten, sich um die Popularisierung der Wissenschaft bemüht hätte. Denn die „wissenschaftliche Weltauffassung“ sollte populär werden, sollte die breiten Massen sensibilisieren für gesellschaftliche Missstände und Methoden zu deren Behebung liefern.


Friedrich Stadler: Vom Positivismus zur „Wissenschaftlichen Weltauffassung“. Wien: Löcker 1982.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert