Martín Caparrós: Der Hunger

Caparrós klagt an – über 840 Seiten: Immer noch hungert jeder siebte Mensch, immer noch stirbt alle paar Sekunden ein Kind daran, dass es nichts oder zu wenig zu essen hat – und das in einer Welt, die genug Nahrung produziert, um noch wesentlich mehr Menschen als die derzeit knapp 7,5 Milliarden zu ernähren. Das ist im Grunde eine soziale Bankrotterklärung – und es ist ein Skandal, an den sich vor allem diejenigen gewöhnt haben, die zu einem erheblichen Teil an dieser Misere schuld sind: Die Bürger der westlichen Industriestaaten, all jene, die solche Bücher wie das von Caparrós lesen oder sich hierher, zu diesem Blogeintrag verirrt haben.

Das Buch zeigt anhand von verschiedenen Entwicklungsländern (bzw. Ländern der „anderen Welt“, wie der Autor sie bezeichnet), in welchem Ausmaß dort die Sorge um die tägliche Nahrungsbeschaffung das Leben bestimmt. Ob Niger, Madagaskar, Indien, Sudan oder Bangladesh: Unzählige Menschen treibt einzig und allein der Gedanke um, was sie heute, morgen essen, wie sie ihre Kinder ernähren können – und sie sind bereit, Erniedrigungen aller Art in Kauf zu nehmen (bzw. sie sind dazu gezwungen), um dieses tägliche Überleben zu sichern. Caparrós hat unzählige Gespräche mit Betroffenen geführt, sie sind berührend, bedrückend und beschreiben eine Welt, die für uns eine bloß theoretische ist, die mit unserem Leben nicht mehr gemein hat als die Schilderung außerirdischer Zivilisationen. Vielleicht ist diese Fremdheit auch die Antwort auf die von Caparrós immer wiederholte (und mit unterschiedlichen Antworten versehene) Frage „wie zum Teufel wir weiterleben können, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?“. Dieses Wissen bleibt der Theorie verhaftet, es ist ein intellektuelles, geistiges – und schon Hume wusste, dass Handlungen der Emotionen bedürfen (weshalb die erfolgreichsten Werbekampagnen zur Bekämpfung des Hungers sich auch der fliegenübersäten, bauchgeblähten kleinen Kinder bedienen). Eine der erschütterndsten Erkenntnisse aus diesen Interviews: Diese Menschen sind noch nicht einmal mehr in der Lage, Wünsche auszudrücken, zu hoffen (so antwortet eine Frau auf die Frage, was denn sie sich am meisten wünschen würde „zwei Kühe“ – „nicht vier, oder fünf?“ – „nein, zwei reichen“, ein mehr scheint unvorstellbar, undenkbar) – und noch weniger imstande, aufzubegehren: Gott (welcher Herkunft auch immer) wird schon wissen, warum die einen mehr, die anderen zu wenig haben. (Hunger ist – auch – ein religiöses Phänomen: Keine einzige der von Caparrós interviewten Personen war atheistisch: Das mit dem „Opium für das Volk“ war so falsch nicht.)

Die Ursachen? Vielfälitig – und gerade deshalb auch so schwer zu beseitigen. Zum einen ein Wirtschaftsdenken, das – unterstützt von Weltbank und IWF – von offenen Märkten schwärmt, die für kleine Staaten den Ruin bedeuten: Kleinbauern können unmöglich mit den (staatlich subventionierten) Preisen der reichen Industriestaaten konkurrieren, die zunehmende Technisierung kommt nicht der einheimischen Bevölkerung zugute, sondern den mit entsprechendem Kapital ausgestatteten internationalen Konzernen, was diese teilweise enteigneten oder aber ökonomisch ruinierten Landbewohner in die großen städtischen Elendsviertel treibt. Oder eine Hungerhilfe, die nicht auf vor Ort angebautes Getreide zurückgreift (us-amerikanische Hilfe muss von Gesetzes wegen aus 75 % amerikanischem Getreide bestehen, was für die subventionierten Bauern ein glänzendes Geschäft darstellt), auch vom Abbau von Bodenschätzen (der oft einzige Reichtum eines solchen Landes) profitiert die einheimische Bevölkerung kaum bzw. er führt gar zur Enteignung von Land, da es in vielen Entwicklungsstaaten keinen schriftlich fixierten Bodenbesitz gibt – und die Unternehmen einigen sich mit Vorliebe mit diktatorischen Machthabern über die Rechte zur Nutzung der Bodenschätze, weil dies das Geschäft einfacher und einträglicher macht (und so nebenher noch die autoritären Strukturen stützt). Und immer wieder religiöse Gründe, ein Kastensystem (wie in Indien), das dem Armen sein Schicksal selbst zuschreibt: Schlechtes Karma, einmal sterben, vielleicht wird’s besser.

Eine Lösung sieht auch der Autor nicht, obschon ich seinen Ansatz, der da von revolutionären Umstürzen träumt, nicht unterstützen kann: Ich kann ihn emotional nachvollziehen, fürchte aber, dass derlei Radikalismus noch sehr viel mehr Elend zur Folge haben würde. Frans de Waal hat etwas prinzipiell Richtiges ausgesprochen, wenn er eine größere Reichweite der Empathie einforderte: Eine Empathie, die sich nicht nur auf die Familie, die eigene Gruppe, sondern auf den Menschen an sich beziehen soll. Allerdings scheint das ein ebenso utopisches Projekt wie die klassenlose Gesellschaft: Und so wird es – wenn überhaupt – bei kleinen, kaum merkbaren Fortschritten bleiben. In einem aber blieb der Autor angenehm realistisch: Er träumt nicht von einem „zurück zur Natur“, er ist sich dessen bewusst, dass auf Technik (angesichts der auf dem Planeten lebenden Menschen) gar nicht verzichtet werden kann, sondern dass sich die Verteilung ändern, dass es ein Recht geben muss auf Nahrung.

Ein sehr lesenswertes, auch kontroverses Buch (wie bei diesem Thema anders gar nicht möglich), ein Buch, das unter die Haut geht und die eigenen Umstände hinterfragen lässt. Das aber auch verstört und betroffen macht ob des Ausmaßes des Elends, der Aussichtslosigkeit, diesen die Menschheit als inhuman ausweisenden Zustand zu ändern oder zu beenden.


Martín Caparrós: Der Hunger. Berlin: Suhrkamp 2015.

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