Shaftesbury: Ein Brief über den Enthusiasmus / Die Moralisten

Enthusiasmus heisst das Schlüsselwort, das die beiden Texte miteinander verbindet. Wobei das Wort mit jeweils gegensätzlichen Konnotationen versehen ist.

Im Brief über den Enthusiasmus geht es um das Verhalten von als Glaubensflüchtlinge von Frankreich nach England gekommenen Hugenotten, die nun in England recht radikal und fundamental Proselyten zu machen versuchen. Der urbane Weltmann Shaftesbury empfiehlt nur ein Gegenmittel: Man solle diese Enthusiasten in der Öffentlichkeit lächerlich machen. Dann werde deren Bekehrungswut sich schon beruhigen. Aus heutiger Sicht kann man Shaftesbury leider nicht ganz zustimmen: Dass das bei Extremisten nur in beschränktem Masse möglich ist und funktioniert, hat leider vor kurzem das Beispiel von Charlie Hébdo gezeigt. Philosophiegeschichtlich gesehen allerdings war Shaftesbury der erste, der Satire des Gegners als Argument in die Debatte einführte – nicht nur in diesem Brief.

In den Moralisten, einem schon strukturell komplexeren Werk (es hat die Form eines Briefwechsels, in dem einseitig über Gespräche berichtet wird, die der eine Briefpartner auf dem ländlichen Anwesen eines gemeinsamen Freundes mit ebendiesem und ein paar weiteren Gästen führt), stellt Shaftesbury sein Denken dann recht konkret dar. Ursprünglich, so Shaftesburys einer Gesprächspartner, verstand sich Philosophie als Gegenmittel gegen den Aberglauben. Es gab zwar philosophische Sekten – es werden die Pythagoreer genannt, die späteren Platoniker, die den Aberglauben und den Enthusiasmus ihrer Zeit aufnahmen (hier Enthusiasmus im Sinne des ersten Textes verstanden), aber in der Philosophie bildete sich zugleich das Gegengewicht der Epikureer und Akademiker, die mit Witz und Spott gegen sie angingen.

Und so hielten sich die Dinge in einem glücklichen Gleichgewicht; die Vernunft hatte freien Spielraum; die Wissenschaften blühten.

Erst später sei die – für Shaftesbury fatale – Tendenz erblüht, mehr das künftige, jenseitige Leben und Glück des Menschen zu betrachten, und zur Erreichung dieses Glücks das Denken zu uniformieren, die freie Meinungsäusserung zu unterdrücken.

Auch der Skeptiker und Ironiker dieses Briefwechsels wird eines Morgens auf freiem Feld angetroffen, wo er plötzlich einen Hymnus auf die Schönheit der Natur anstimmt. Auch der Skeptiker kann also von einem Enthusiasmus ergriffen werden – doch es ist der der Begeisterung für die Schönheit und Harmonie, die in der Natur anzutreffen sind. Der Mensch, so der moralische Schluss, den Shaftesbury zieht, müsse nur diese Schönheit sehen, und sich in diese Harmonie einfügen, um sein Leben und das Leben der anderen besser gestalten zu können. (Shaftesburys philosophischer Kontrahent ist wohl unschwer zu erkennen: Thomas Hobbes Gesellschaftsbild mit dem Kampf aller gegen alle.)

Shaftesburys Philosophie ist auch im zweiten Text die des weltoffenen, urbanen und in der ‚High Society‘ wohl verankerten Mannes, der lebt und leben lässt. Er hat damit die jungen Deutschen des ausgehenden 18. Jahrhunderts stark beeindruckt, so beeindruckt, dass der junge Hamann versuchte, zwei Abhandlungen von ihm zu übersetzen. Auf Wieland, Herder und Goethe hat sein Weltbild der durch Schönheit vermittelten Harmonie grossen Einfluss gehabt. Shaftesburys Abkehr von engstirnig-intoleranter Religionsausübung wurde zum Markenzeichen der deutschen Klassik (auch wenn zumindest Herder und Goethe sich der Satire nie so recht und in rechtem Masse bedienen konnten) und Weimar bei aller Provinzialität eine Weltstadt. Shaftesburys rhapsodische Ergiessungen über die Schönheit der Natur finden sich, nebenbei bemerkt, nicht nur bei den Klassikern, sondern z.B. auch bei den Empfindsamen wieder.

Shaftesburys Stärke ist zugleich seine Schwäche: Er ist – einfach auf der andern Seite – ebenso einseitig wie sein Kontrahent Hobbes. Beim Versuch konkreter Umsetzung schlägt sein Weltbild sehr rasch in Weltfremdheit um – der sich in seinen Elfenbeinturm zurückziehende Denker ist ein Phänomen, an dem der Brite des beginnenden 18. Jahrhunderts wohl nicht unschuldig ist.

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