Diese um die Jahrhundertwende sehr populäre „Einleitung in die Philosophie“ bietet einen kurz gefassten Überblick über seine Positionen, die die Philosophie aus einem wissenschaftlichen (genetisch-biologischen) und einem soziologischen Blickwinkel betrachtet. Der sich an Darwin orientierende Ansatz in der Erkenntnistheorie mutet sehr modern an: Er glaubt jede psychologische Äußerung mit physiologischen Vorgängen verbunden und behauptet den Primat der Erfahrung sowohl in Wissenschaft als auch Philosophie (die er stets eng verbunden sieht). Das Kriterium der Wahrheit ist für ihn das Eintreffen einer Vorhersage aufgrund eines zuvor aufgesgellten Urteils, die Evidenz aber auch Kants synthetische Urteile a priori werden abgelehnt. Für seine Erkenntnistheorie konstituierend ist der Begriff der „fundamentalen Apperzeption“, eine Art der Grunderfahrung des Subjektes, das das Ding der Außenwelt als ein selbständiges „Kraftzentrum“ erfährt und die unsere Erkenntnis antreibt. Der eigentliche Grund für diese Erkenntnis ist aber ein biologischer: Das Wesen Mensch möchte überleben und sich fortpflanzen und die Werkzeuge der Erkenntnis, die Neugier dienen diesem Zweck.
So modern diese Position anmutet, so seltsam wird sie umgeformt und uminterpretiert, wenn es um eine Kritik des Materialismus geht. Jerusalem möchte auf die psychische Besonderheit des Menschen, auf seine Seele (Geist) nicht verzichten und sieht sich daher gezwungen, seine zuvor konsequent wissenschaftliche Herangehensweise aufzugeben. Er scheint gar nicht zu merken, wie er den Boden gesicherter Erkenntnisse plötzlich verlässt und die Materialisten dafür kritisiert, dass sie für ihre Position den Energieerhaltungssatz als Beweis in Anspruch nehmen. Natürlich ist dies im Grunde eine petitio principii (der Materialist setzt ein wissenschaftliches Prinzip als erwiesen voraus), aber es ist eine Voraussetzung, die sich in jeder Hinsicht bestens bewährt hat. In jedem Fall ist die Annahme dieses Satzes eine sehr viel bessere Ausgangsposition als die ad-hoc-Ablehnung Jerusalems, der einfach feststellt, „daß das Prinzip der Konstanz der Energie auf dem Gebiete des Lebendigen und des Psychischen zur Vereinfachung und zum Verständnis des tatsächlich Erlebten gar nicht beiträgt“. Ein „ganz anderes Erklärungsprinzip“ wird verlangt, das er u. a. bei Wundt findet, der das Prinzip des „Wachstums geistiger Energie“ aufgestellt hat. In der Welt des Geistes sei zwar alles auch verursacht, allerdings würden die Wirkungen weit über das Vorangegangene(?) hinausgehen. „Geistige Vorgänge beeinflussen Menschen und lösen ein Vervielfältigung und Vermannigfaltigung aus, die sich ins Unermeßliche steigert.“ Kausalität sei also nicht nur da anzutreffen, wo das Gesetz der Erhaltung der Energie Geltung habe. Eine solche Argumentation würde Jerusalem in anderen Zusammenhängen wohl kaum akzeptieren, um aber psychische Vorgänge annehmen zu können, „die eines substantiellen Trägers entbehren“ (wie man diese sich denken soll sagt er nicht), ist er zu solchen Zugeständnissen bereit. Er spricht daher immer nur von einem psychischen Geschehen (im Gegensatz zu einem psychischen Sein), dieses Geschehen stellt er sich substratlos vor und „ist von allem Materiellen etwas wesentlich Verschiedenes“. (Meine Vorstellung versagt beim „substralosen Geschehen“, Jerusalem hingegen meint, dass die wissenschaftliche Methode, welche nur Tatsachen beschreiben will, uns lehrt, „daß in unserer […] allersichersten Erfahrung ein Geschehen gegeben ist, das sich von allem sinnlich Wahrnehmbaren, allem Materiellen wesentlich unterscheidet, ja mit diesem gänzlich unvergleichbar ist“, weshalb auch diese Wissenschaft gegen die materialistische Weltanschauung stimmen würde. Es wirkt seltsam und ist auch ein wenig bedauerlich, zu welchen Bocksprüngen metaphysischer Natur sich ein ansonsten nücherner Denker hier hinreißen lässt. Und vergessen hat, dass er noch 100 Seiten zuvor die unabdingbare Verbindung von Psychologie und Physiologie postuliert hat.)
Seine Gottesauffassung ist ähnlich willkürlich: Während wir anhand der fundamentalen Apperzeption die Dinge der Welt erfassen können, scheitern wir bei dem Versuch, diese Apperzeption auf das Weltganze anzuwenden. „Sowie wir dies aber versuchen, dann erscheint uns dieses Ganze als das Werk eines mächtigen, unendliche Willens“. Im nächsten Satz verrät (unbewusst?) Jerusalem die eigentlichen Intentionen seiner „Erscheinung“: „Erst dadurch aber erhält unser Weltbild den wünschenswerten Abschluß.“ (Meine Hervorhebung) Dieser Wunsch ist ganz offensichtlich ausschlaggebend, allerdings sind Wünsche in einem vorgeblich wissenschaftlichen Weltbild von eher geringer Aussagekraft. Jerusalem kann sich trotz seines Bemühens um empirische Rationalität nicht wirklich von seiner Kindheitsmetaphysik trennen: Gerade darum ist ihm in philosophischer Hinsicht (vielleicht Franz Brentano vergleichbar) die wirkliche Anerkennung versagt geblieben. Ansonsten könnte er heute als ein erster Vertreter der evolutionären Erkenntnistheorie angeführt werden, denn seine auf die Epistemologie beschränkten Ausführungen muten äußerst modern an (auch seine sich an der Gemeinschaft orientierende Ethik und sein Eintreten für die Soziologie zeugen von Aufgeschlossenheit und dem Bemühen um eine nicht weltabgewandte Philosophie). Seine (metaphysische) Inkonsequenz verhindert allerdings ein wirklich konsistentes Weltbild, er bleibt in vielen Bereichen rückwärtsgewandt.
Wilhelm Jerusalem: Einleitung in die Philosophie. 4. Auflage. Wien, Leipzig: Braumüller 1909.
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