“Anthony Graf Shaftesbury, Essays”

Unter diesem Titel befindet sich in Band 4 der historisch-kritischen Hamann-Ausgabe von Nadler ein Kapitel mit zwei Shaftesbury-Übersetzungen des Hofmeisters Johann Georg Hamann. Shaftesbury muss auf die damaligen jungen deutschen Intellektuellen ziemlichen Eindruck gemacht haben, hat doch praktisch zur selben Zeit auch Hölty sich an ihm als Übersetzer versucht. Hamann hat seine Übersetzung m.W. zu Lebzeiten nicht veröffentlicht; sie zirkulierte allerdings im Freundeskreis. Die Nicht-Veröffentlichung ist auch gut so, weil die Übersetzung ziemlich schlecht ist und voller Fehler steckt. Hamann sollte ja erst später nach London reisen; sein Englisch war zu seiner Hofmeister-Zeit alles andere als perfekt. Dennoch reicht der Text in der vorliegenden Form für meine Zwecke allemal aus. Und auf Hamanns Verhältnis zu Shaftesbury möchte ich später noch eintreten.

1711 erschien in London Shaftesburys Characteristics of Men, Manners, Opinion, Times – eine Sammlung von Essays in drei Bänden. Hamann hat daraus die beiden ersten, die grössten und bedeutsamsten Essays übersetzt. Mich interessiert hier der zweite, im Original unter dem Titel An Essay on the Freedom of Wit and Humour erschienen.

Shaftesbury (1671-1713) ist in gewissem Sinn der Weltmann unter den englischen Aufklärern und Empiristen. Dementsprechend arbeitete er weniger systematisch, weniger auf dem eigentlich philosophischen Gebiet der Erkenntnistheorie, sondern eben essayistisch und auf dem Gebiet von Moralphilosophie und Ästhetik. Im Essay on the Freedom of Wit and Humour behandelt er das verzwickte Problem des uneigentlichen Sprechens oder Schreibens. Er stellt folgende Hypothese an den Anfang seiner Überlegungen: Was, wenn ein Äthiopier [Hamann schreibt noch Ethiopier] – völlig ohne Kenntnisse europäischer Kultur – nach Italien reiste und dort als erstes den Karneval von Venedig zu Gesicht bekäme? Müsste er nicht diesen Karneval ernst nehmen und die Europäer für verrückt halten? Und würden nicht andererseits die Europäer über den Äthiopier lachen, weil er über sie lacht?

Es ist nun nicht die ethnologische Implikation, die Shaftesbury interessiert (obwohl auch die interessant sein könnte), sondern die erkenntnistheoretische. Es geht um die Frage: “Was ist Wahrheit, was ist Larve?” Die Erkenntnistheorie kippt bei Shaftesbury allerdings sofort in eine moralphilosophische Frage um. Was ist schlussendlich lächerlicher: Die Larve, die Larve nicht zu durchschauen, oder – noch eine Stufe höher – aus Furcht davor, die Larve nicht zu durchschauen, zuletzt gar nicht mehr urteilen zu können? Somit wird die Lächerlichkeit des Äthiopiers relativiert, weil die des gebildeten Europäers, der vor lauter Furcht gar nichts erkennen zu können glaubt, noch grösser ist.

Von diesem Punkt aus geht Shaftesbury aber nun noch weiter. Wie, wenn die Larve eine grössere Wahrheit besässe als das dahinter steckende Gesicht, oder wenn (nur) mittels einer Larve auf die Wahrheit hingewiesen werden kann? Mit anderen Worten: Können nicht Witz, Ironie, Satire erkenntnistheoretische Mittel sein? Könnte nicht der Scherz unter Umständen mehr Wahrheit vermitteln als der Ernst? Und das auch in philosophicis? Zumindest aus ethisch-moralischer Sicht spricht für Shaftesbury nichts dagegen, ja einiges dafür. (Hier spricht natürlich der weltmännische Aufklärer, dem die stoisch ernsthafte Verehrung hehrer Tugendideale schon immer suspekt ist.) Die subversive Grundhaltung des Witzes kann eine bessere, tiefere Wahrheit zu Tage fördern. Und bessere, tiefere Erkenntnis ist für Shaftesbury auch immer identisch mit einer besseren Lebenseinstellung. Die Erkenntnishaltung eines Menschen geht für ihn immer parallel zur moralisch-ethischen Haltung im Leben.

Shaftesbury selber richtet diese subversive Grundhaltung dann vor allem gegen die Religion. Oder, besser gesagt, gegen deren mehr oder weniger öffentlichen, kirchlichen Ausprägungen, gegen die Histörchen, die Ammenmärchen, die von offiziell-kirchlichen Stellen vielleicht nicht direkt verbreitet, aber doch im Grunde genommen zustimmend behandelt werden, weil ein in Furcht gehaltenes Volk besser gehorcht. Somit hat das Lächerliche, bzw. das Gewahr-Werden des Lächerlichen, nun auch eine politische Dimension gewonnen. Shaftesbury hütet sich davor, die allzu sehr zu betonen, und sein Übersetzer Hamann folgt ihm darin.

Keine streng philosophische Abhandlung also, aber eine hübsche Skizze der erkenntnistheoretischen und moralisch-ethischen Implikationen, die das Lachen und das Lächerliche haben können.

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