Seit Jahren erzähle ich jedem, der es hören will, dass Joyce‘ bester Roman nicht der Ulysses sei, und schon gar nicht Finnegans Wake, sondern eben A Portrait of the Artist as a Young Man. Und dies, obwohl ich Ulysses seither noch manches Mal wieder gelesen habe, das Portrait aber seit Jahrzehnten nicht mehr. Jetzt habe ich es wieder einmal hervorgeholt. Meine jetztige Meinung?
Noch bedeutend weniger verliebt ins Spielen mit der Sprache, noch geradlinig und ohne Kinkerlitzchen erzählt, ist das Porträt vielleicht zwar intellektuell weniger herausfordernd, und man wird entsprechend weniger bewundernde Blicke ernten, wenn man sagt, dieses Werk Joyce‘ zum wiederholten Mal gelesen zu haben. Aber, so sehr ich auch formale Experimente schätze (weshalb ich ja auch den Ulysses bereits mehrmals gelesen habe): Ein Roman braucht m.M.n. letzten Endes auch ein nachvollziehbare Geschichte. Und die Geschichte des jungen Stephen Dedalus ist nicht nur nachvollziehbar, sie ist auch typisch für seine Zeit und seinen Ort und wird dadurch welttypisch und Weltliteratur.
Zeit: um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert. Ort: Irland, genauer Dublin. Es ist eine Zeit, in der Irland zerrissen war zwischen proenglischen und proirischen Faktionen. Diese einander bis aufs Blut bekämpfenden Parteien waren nicht nur dahingehend geschieden, dass die einen einen Verbleib Irlands im britischen Reich befürworteten, während die andern die Selbständigkeit Irlands propagierten – sie waren oft, wenn auch nicht immer, konfessionell geschieden: hie Anglikaner, dort Katholiken. (Dass das nicht immer der Fall sein musste, wird an der Geschichte des jungen Dedalus exemplifiziert, der erleben muss, wie so manches Familienfest in handfestem Streit endet zwischen der proirischen und der proenglischen Faktion in seiner Familie.)
Das Portrait ist auf weite Strecken eine realistische Schilderung dessen, wie ein junger, intelligenter Mensch in Dublin gross wird und sich seiner ‚Sendung‘ als Schriftsteller bewusst wird. Bei allem Realismus fehlen auch sprachexperimentelle Stellen keineswegs. Schon der Beginn, wo Joyce kindliche Sprache und damit auch kindliches Verstehen der Welt imitiert, zeigt, wohin sich Joyce bewegen sollte. Wenn der pubertierende Dedalus durch Dublin irrt, auf der Suche nach einem Priester, der ihm die Beichte abnehmen soll (und Dedalus, zu der Zeit auf einem von Jesuiten geführten College, fühlt sich fürchterlich schuldig, hat er doch mit Prostituierten geschlafen), so lässt uns Joyce auch am Innenleben seines Protagonisten teilhaben und verwendet dafür bereits so etwas Ähnliches wie den Bewusstseinsstrom, um diese Schilderung so realistisch wie möglich zu gestalten.
Die Geschichte also eines Künstlers bzw. die Geschichte, wie sich dieser Künstler in seiner Jugend zusehends seiner Berufung bewusst wird. Heute wirkt die Figur Stephen Dedalus oft frühreif, so z.B., wenn er mit Freunden etwas diskutiert, das die ästhetische Theorie des Thomas von Aquin sein soll. Das klingt, wie gesagt, frühreif – zeigt aber doch wohl nur die Treibhausatmoshäre eines katholischen College, wo zeitgenössische Autoren missachtet wurden, und der Trieb nach der (weiblichen) Schönheit ein Ventil benötigte. Offenbar wird sich auch der Autor (und mit ihm Stephen Dedalus) dieser seltsamen Atmosphäre bewusst: Dedalus geht freiwillig ins Exil. Sprich: Er wird am Schluss des Romans Irland verlassen, so, wie auch Joyce Irland verlassen hat – ein Land, in dem zu jener Zeit die politisch-religiöse Zugehörigkeit wichtiger war, als irgendwelche künstlerischen Produktionen, ein Land der Armut und auch der Trunksucht (wie Dedalus an seinem eigenen Vater erleben muss).
Fazit: A Portrait of the Artist as a Young Man gehört nach wie vor zur Weltliteratur. Und ich halte es nach wie vor für Joyce‘ besten Roman.