Herbstbott der Gottfried Keller-Gesellschaft Zürich

Bott – das hat nichts mit ‚Bottich‘ zu tun, sondern mit dem Schweizerdeutschen Partizip Perfekt von ‚bieten‘, also ‚geboten‘. ‚Geboten‘ nämlich im Sinn von ‚aufgeboten‘ – ein ‚Bott‘ ist nichts anderes als eine Jahres- oder Generalversammlung. Vor allem die – sagen wir – stark traditionsverhafteten Schützenvereine hierzulande verwenden den Begriff gern. Und natürlich die Gottfried Keller-Gesellschaft Zürich. Historisch gesehen konsequent: Die Gottfried Keller-Gesellschaft Zürich ging Anfang der 1930er Jahre aus dem Lesezirkel Hottingen hervor. Hottingen der Name eines Dorfs, dann nach der Eingemeindung durch Zürich eines Quartiers gleich oberhalb des Sees. Die 1930er Jahre waren sehr patriotische Jahre in der Schweiz. Gottfried Keller galt als der Dichter der ’neuen‘, liberalen Schweiz. Dies hatte er Novellen wie dem Fähnlein der sieben Aufrechten zu verdanken, wo er diese (zu seiner Zeit eben neue) Schweiz über den grünen Klee lobte. Dass der alte Keller, z. B. im Roman Martin Salander, ebendiese neue Schweiz bedeutend kritischer beäugte, wurde und wird dabei gern übersehen – als ‚misslungen‘ wird dieser Roman bezeichnet.

Herbstbott mit Referat hat bei der Gottfried Keller-Gesellschaft Zürich Tradition. Die Liste der bisherigen Referenten liest sich wie ein Who is who der Schweizer Germanistik. Nur ein paar Schriftsteller und ein paar Politiker durften sich unter diese gelehrte Gesellschaft mischen. Dieses Jahr wurde das Herbstbott im Rahmen von «Zürich liest ’16» annonciert, weshalb ich überhaupt erst darauf aufmerksam wurde.

Ich war früh im Ratshaus, wo der Anlass traditionsgemäss stattfindet, und konnte den Zuhörer-Aufmarsch verfolgen. Es erschienen recht viele Leute, die meisten davon im Sonntagsstaat, und die Mehrheit war gut jenseits der 75 Jahre alt. Die Wartezeit gab mir auch Gelegenheit, in den Mitteilungen der Gottfried Keller-Gesellschaft Zürich von 2016 den Vortrag nachzulesen, den der Schweizer Autor Franz Hohler letztes Jahr an dieser Stelle gehalten hatte. Es handelte sich da um eine sehr persönliche Annäherung eines Schriftstellers an einen Kollegen. Gedichte Kellers, die Hohler berührt haben. Keller als Figur in seinen Texten (wo er z.B. in Zürich auf James Joyce trifft). Oder ein Bericht von einem Gespräch mit Canetti, der davor zurückschreckt, wie Keller eine Zürcher Lokalgrösse zu werden. Ein Besuch auf dem grossen Friedhof in Zürich auch, wo Hohler nicht nur Keller trifft, sondern auch Hugo Loetscher und Johanny Spyri. Hohler findet eine virtuelle Kette von Autor zu Autor – so, wenn er jemanden kannte, der noch Ricarda Huch persönlich gekannt hatte, die ihrerseits abends den alten Keller in Zürich nach Hause gehen sah. Die bedeutend weniger virtuelle Kette, die machte, dass der sterbende Keller noch seinen Konkurrenten C. F. Meyer, den er nicht unbedingt mochte, an sein Bett rief (quasi, um den Stab weiterzugeben) – so, wie er selber, Hohler, ans Sterbebett von Urs Widmer gegangen war.

Die musikalische Umrahmung wurde durch das Trio «Anderscht» (= ‚Anders‘) sichergestellt (Andrea Kind, Konzerthackbrett; Fredi Zuberbühler, dito; Roland Christen, Kontrabass). Vorher war 25 Jahre lang dasselbe Kammerensemble dafür zuständig gewesen. Nach 25 Jahren neue Musiker und dann noch eine Beteiligung an einem Literatur-Festival, das mit Klassikern ansonsten recht wenig zu tun hat – welch ein Wagemut! Als zwei der drei Musiker in Appenzeller Tracht erschienen, befürchtete ich allerdings schon das Schlimmste. Aber diese Tracht war bewusste Irreführung. Nach den ersten Takten glaubte ich an einen experimentellen Klangteppich, an eine Form des Modern Jazz. Jazz war drin, aber es war mehr eine allgemeine Verfremdung verschiedenster musikalischer Versatzstücke, die wir zu hören bekamen. Frech, aber nicht allzu frech – gerade so, dass das Publikum trotz des hohen Durchschnittsalters noch äusserst begeistert sein konnte.

Den obligaten Jahresrückblick des Präsidenten übergehe ich und komme gleich auf das Referat von Prof. Philipp Theisohn. Ich kannte den Zürcher Germanisten vorher nicht, aber das will nichts heissen: Ich kenne die neue Garde überhaupt nicht mehr. Theisohns Thema lautete: Mädchenbekehrer. Kellers Poetik des Eros. Vom missglückten Eros in der ersten Fassung des Grünen Heinrichs hin zu den Sieben Legenden, in denen Keller die kulturelle Repression des Eros im 19. Jahrhundert langsam bröckeln lässt. Die hinter der Repression steckende Angst vor dem Weiblichen – man wird der Frauen nicht Herr! – kann nur durch Versteckspiel und Verkehrung der Geschlechterverhältnisse unterwühlt werden: Frauen, die sich als Männer verkleiden, und dann noch als geschlechtslose Mönche. Die Legenda aurea, aus denen Kellers Sieben Legenden (über den Umweg eines Kosegarten) stammen, werden in ihr Gegenteil verkehrt: Die keusche Jungfrau Maria wird zu Schutzpatronin der Ehe und damit des Eros. Dahinter steht der neuplatonische (plotinische) Dämon Eros, der die menschliche Seele führt, wenn es darum geht, mit der Weltseele zu verschmelzen. Bei Keller führt das zu einer Transzendierung der Geschlechtlichkeit. Schrift und Lust – und deswegen sprich Theisohn von einer Poetik des Eros – müssen aber vereint werden. Das ist nur möglich durch die (geschriebene!) Lust einer Frau. Der poetische Auftrag lautet: Vereinigung des körperliche Eros mit dem intellegiblen Eros = Vereinigung von Form und Inhalt. Der Schluss, wenn ich Theisohn denn richtig verstanden habe, will mir zwar gewagt scheinen, aber nicht unmöglich.

Ganz zum Schluss dann noch ein kleiner Apéro: Nichtssagende Salznüsschen und ein fruchtiger Weisswein, der leider viel zu kalt serviert wurde. (Wann werden die Deutschschweîzer endlich lernen, dass Weisswein nicht eisgekühlt sein darf?!?) Es war kein Staatswein, auch wenn das Bildnis Gottfried Kellers auf dem Etikett zu finden war. Ich wartete nicht, bis die Mitglieder der Gottfried Keller-Gesellschaft Zürich ihre Geschäftssitzung beendet hatten. Ich fühle mich für eine Mitgliedschaft noch zu jung, auch wenn ich die Ziele der Gesellschaft, die Herausgabe bzw. ständige zur Verfügung-Haltung der historisch-kritischen Ausgaben von Keller und Meyer durchaus positiv finde.

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