Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft

Die Abstiegsgesellschaft ist – den Ausführungen Nachtweys entsprechend – jene Gesellschaft (er bezieht sich in seiner Untersuchung hauptsächlich auf Deutschland bzw. die BRD), die – beginnend in den 70ern – eine regressive Modernisierung eingeleitet hat. Regressive Modernisierung: Ein sukzessiver Abbau von Sozialleistungen und ein unter der Ägide des Neoliberalismus verstärkter Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt, der zu einer gesteigerten Individualisierung führt und den Erfolg als einzig zählenden Gradmesser für ein gelungenes Leben ansieht.

Die neoliberalen Tendenzen seit den 80ern sind die Grundlage für diese Entwicklung: Was zuerst unter den Stichworten einer größeren Eigenverantwortlichkeit, aber auch Freiheit eingeführt wurde, zog alsbald den Abbau von Sozialleistungen nach sich. Leiharbeiter, Ich-AGs, Freelancer, Scheinselbständige ersetzen unter diesen Schlagworten Festangestellte mit Tarifvertrag und staatlicher Pensionsvorsorge – und wer auf diesem Arbeitsmarkt nicht zu bestehen vermag, hat seine Chancen nicht genutzt. Die Unternehmen schätzen die Möglichkeit von Einsparungen und größerer Flexibilität, eine Unternehmensbindung der Angestellten und Arbeiter wie noch in den 60ern und 70ern ist aufgrund der Konzentration auf kurzfristige Gewinne nicht (oder nur teilweise) gewollt. Man arbeitet für den Shareholder, nicht für ein bestimmtes Unternehmen, und dieser Shareholder ist an langfristigen und oft unsicheren Erfolgsaussichten nicht interessiert.

Damit verbunden ist die enorme Expansion des Finanzsektors, der – je nach Berechnung – den 100fachen Umsatz der Realwirtschaft beträgt. Die völlig verkorkste Finanzpolitik der Europäischen Zentralbank ist ein wunderbares Beispiel für eine teilweise Einsicht in das Problem, ohne aber die wirklich essentiellen Maßnahmen zu ergreifen (oder ergreifen zu können): Denn die ungeheuren Geldsummen, die von der EZB bereitgestellt werden, werden nicht (wie gewünscht) in die Realwirtschaft gepumpt, sondern auf dem Finanzmarkt investiert, da dieser nach wie vor höhere Gewinne verspricht. Daher kann Dragis Geldpolitik ihre erwünscht Wirkung nicht entfalten, solange nicht über eine Transaktionssteuer Banken und Versicherungen gezwungen werden, in die Realwirtschaft zu investieren. Diese Steuer aber ist eine politische Maßnahme und wird aufgrund diverser Befindlichkeiten (oder eines kleinlichen Egoismus) nicht auf den Weg gebracht. Und so bleibt eine seltsam anmutende Verwunderung in den Führungsetagen der EZB zurück, dass trotz Geldschwemme die Mittel jene nicht erreichen, für die sie eigentlich gedacht sind.

Zusätzlich verstärkt sich in der Bevölkerung der Eindruck, dass die tatsächlichen Entscheidungen nicht mehr demokratisch gefällt werden, sondern in irgendwelchen weit entfernten Gremien, bei Lobbyisten oder Interessensvertretungen, sodass etwa auch letztere als ein Teil des Establishments angesehen werden und nicht als legitimierte Vertreter einer Gruppe. Im Gegenzug wird die erwähnte Individualität zu einem gesellschaftlichen Imperativ erhoben und auf Chancengleichheit hingewiesen. Diese aber besteht zum einen nur in der Theorie (Kinder der oberen Einkommensschicht haben ganz offenkundig andere Möglichkeiten), zum anderen bedeutet eine konsequent verwirklichte Chancengleichheit, dass die sich daraus ergebende Ungleichheit als gerecht empfunden wird. Der Schwache hat zu Recht keinen Anteil am gesellschaftlichen Erfolg, weil er schwach ist. So bemüht man sich in den letzten Jahren vermehrt um horizontale Gerechtigkeit, ohne auf die sich vergrößernden Unterschiede in vertikaler Hinsicht (politisch) Einfluss zu nehmen. Die Ursache ist hier eine ähnliche wie bei den Finanzmärkten: Feigheit und mangelnde Solidarität unter den Ländern verhindern die entsprechende Besteuerung großer Einkommen.

Und so wird durch eine „marktkonforme“ Politik (Merkel) eine schon bei Pareto erwähnte Eliten-Demokratie installiert, man dient den Märkten statt sie zu regulieren. Das führt zu einer Erodierung der Mittelschicht (wobei Nachtwey zurecht betont, dass hier die Sorge sehr oft größer ist als die reale Gefahr des Absturzes, übersieht allerdings zum Teil die psychologischen Aspekte dieser Sorge: Einen verstärkten Egoismus dort, wo man noch eine Chance zu haben meint und Resignation in den unteren Schichten, die den status quo als unabänderlich betrachten.*

Das Buch ist eine nur ansatzweise geglückte Zusammenfassung dieser Gedanken: Nachtwey gelingt es nicht, seiner Darstellung eine klare und übersichtliche Struktur zu geben, oft hat man das Gefühl, einen ins Kraut geschossenen soziologisch-ökonomischen Aufsatz in der Beilage einer Sonntagszeitung zu lesen. Seiner Diagnose kann weitgehend zugestimmt werden, allerdings vermeidet auch er weitgehend, den Einfluss bzw. das Versagen der Politik zu thematisieren. Ein Versagen, das angesichts des aufkommenden Rechtspopulismus umso unverständlicher erscheint: Als ob man warten würde, bis es auch in Europa zu einer weitgehenden Trumpisierung kommt und dies dann als unvermeidliches Schicksal betrachtet. Und so findet man in dem Buch nicht wirklich viel Neues, wenn man einigermaßen regelmäßig die politischen Ereignisse verfolgt.


*) Gerade die Hartz-IV-Maßnahmen sind diesbezüglich extrem kontraproduktiv: Sie drohen dem noch Beschäftigten mit dem Absturz in die Prekarität und nehmen den Empfängern jeden Antrieb, da sie allen noch nicht einmal die Möglichkeit geben, für schlechtere Tage vorzusorgen bzw. auf neue Möglichkeiten zu sparen (da das so angesparte Vermögen vor in Anspruchnahme dieser Sozialhilfe aufgebraucht werden muss). Natürlich hat das einen wirtschaftspolitischen Aspekt: Man kann auf diese Weise garantieren, dass alle diese Menschen ihr Geld samt und sonders ausgeben und damit die Binnenwirtschaft ankurbeln. In einem höheren, psychologischen Sinn ist das aber fatal: Man erzeugt resignierte, unproduktive Bürger, die gerade für rechtspopulistische Parteien zum großen Gewinn werden.


Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2016.

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