Ulrich Schnabel: Die Vermessung des Glaubens

Das, was Schnabel hier als eine umfassende „Vermessung des Glaubens“ präsentiert, ist eine eher seltsame Auswahl von spezifisch religiösen Elementen, die auf ihre Nützlichkeit untersucht werden. Abgeschlossen werden die einzelne Kapitel durch Interviews mit diversen Personen, die – direkt oder indirekt – von den Auswirkungen dieses Glaubens betroffen sind.

Schon im ersten Abschnitt „Medizin des Glaubens“ wird die seltsame und inkonsequente Herangehensweise des Autors deutlich. Schnabel beschreibt „Wunderheilungen“, um diese dann durch den Placeboeffekt des „Wunderbaren“ teilweise zu entkleiden. Dabei wird suggeriert, dass auch diesem Effekt etwas „Wunderbares“ innewohnt, weil es ja die Erwartungshaltung (und keine spezifisch chemische Wirkung) ist, die die Heilung bewirkt bzw. zu ihr beiträgt. Das ist natürlich Nonsens: Der Placeboeffekt ist so chemisch wie jede andere medikamentöse Behandlung, nur dass die Erzeung von Botenstoffen (Antigenen etc.) bereits durch die Erwartungshaltung ausgelöst wird.

Ähnlich geht es in den nächsten Kapiteln weiter: In „Zwischen Nächstenliebe und Fanatismus“ stellt sich für Schnabel die „große Frage“, wie eine Religion der Liebe wie das Chirstentum so etwas wie die Inquisition hervorbringen konnte. Hin- und hergerissen zwischen der stupenden Naivität der Fragestellung und der historischen Unkenntnis einer solchen „großen Frage“ bleibt dem Leser nur Verwunderung. (Die geschichtlichen Grundlagen der Entstehung der Religion bleiben im ganzen Buch außen vor: Deschner wird nirgendwo erwähnt, hingegen aber der theologische Historiker Arnold Angenendt und dessen Aufarbeitung der Hexenverbrennungen: So, als ob man einem bekennenden Rechtsnationalen als Gewährsmann für die Geschichte des Dritten Reiches heranziehen würde.)

Dann ein Ausflug in die Neurotheologie: Hier kann sich der sich als Agnostiker gerierende Autor von seiner kritischen Seite zeigen: Weder durch Meditationsforschungen im psychologischen Labor noch durch hirnphysiologische oder bildgebende Untersuchungen kommt man dem Phänomen des Glaubens (oder dem von Zeit zu Zeit durch die Boulevardblätter geisternden Gottesgen) näher. Was aber immer bleibt sind die Phänomene an sich, die Gotteserfahrungen, das „sich eins fühlen mit der Welt“ und dergleichen esoterische Entrückheiten, die für Schnabel der Erklärung harren, aber einer rein wissenschaftlichen Analyse doch nicht zugängig sind. Solche scheinbar unser rationales Denken transzendierenden Erfahrungen bleiben dann stehen als der Hinweis, dass da doch mehr wäre zwischen Himmel und Erde … Diese Inkonsequenz, irgendwelche Behauptungen zu zitieren und sie dann nicht weiter zu verfolgen (was diesen Behauptungen etwas Apodiktisches verleiht), zieht sich durch das ganze Buch. Beispielhaft im Kapitel über die Evolution des Glaubens, wo der Anthropologe Richard Sosis zitiert wird, der eine Problematik des evolutionsbiologischen Erfolges der Religion „auf den Punkt“ bringe: „Anthropologen können erklären, weshalb Jäger und Sammler ihre Nahrung mit anderen Gruppenmitgliedern teilen – aber nicht, warum sie ihre Lebensmittel auf einem Altar verbtennen.“ Der Punkt ist hier vielmehr, dass diese Riten selbstverständlich erklärt werden können, wenn man den Wunsch des Betreffenden nach Einwirkung auf sein Schicksal in Betracht zieht. (Im übrigen wurden gerade solche Opfergaben häufig symbolisiert: Weil bei Nahrungsmangel ein ganzer Ochse nur selten zu entbehren ist, werden etwa nur Unschlitt oder Knochen – in effigie – dem Demiurgen zugestanden – er wird’s schon richtig verstehen.)

Ein anderes typisches Beispiel für diese Wissenschaft und Religion auf seltsame Weise harmonisierende Schreibweise (dass Wissenschaft und Religion sich ergänzen, zumindest kein Widerspruch sein würden, wird Schnabel nicht müde zu behaupten: Weil nicht sein darf, was nicht sein soll) findet sich in einem Abschnitt, in dem die arme Quantentheorie mal wieder für die Relativität der Beobachtung (und der Wahrheit) herhalten muss: Dass Problem sei, „dass der Beobachter Teil jenes Geschehens wird, das er eigentlich objektiv beobachten will“. (Dieses Problem, lieber Autor, hat die Quantenmechanik nicht exklusiv: Es findet sich in jeder Erfahrungswissenschaft.) Dann aber fährt er fort: „Diese Tatsache [dass der Beobachter Teil des Geschehens ist] hat seither zu vielerlei Interpretationen Anlass gegeben; auch Esoteriker greifen sie gerne auf, um daraus die Behauptung abzuleiten, man könne die Wirklichkeit mit purer Gedankenkraft verändern. Da dies in den allermeisten Fällen Unsinn ist […]“ (meine Hervorhebung). Ich wüsste in diesem Zusammenhang nur zu gerne, in welchen Fällen dies nun nicht Unsinn ist, hier aber bleibt der Autor weitere Ausführungen schuldig. Hingegen hat er brav in einem Nebensatz seinen Tribut an den bekennenden Esoteriker entrichtet, der nun mit Sicherheit von seinen Ausnahmefällen zu berichten weiß. Und selbstverständlich wird auch (hier mit dem Hinweis auf Heinz von Foerster und seinem Konstruktivismus) auch die Relativität der Wahrheit strapaziert: Da aber gilt mein Dank den diversen rechtspopulistischen Bewegungen und insbesondere Mr. President, Donald Trump. Niemand hat in letzter Zeit mehr für den Begriff der Wahrheit getan als der amerikanische Präsident (und Konsorten): So dass auch der relativierende Durchschnittsbürger und Möchtegernphilosoph sich wieder der Problematik von „alternativen Fakten“ bewusst wurde. (Dass Schnabel dann von Foersters Radikalkonstuktivismus noch mit Poppers Fallibilismus verknüpft, um selbst einen praktikablen Wahrheitsbegriff zur Verfügung zu haben, darf man auf philosophische Unbildung zurückführen. Die ontologischen Konzepte dieser beiden Denker könnten nicht unterschiedlicher sein, wodurch auch ihre Wahrheitsbegriffe vollkommen inkompatibel sind.)

Vermessen wird in diesem Buch nicht der Glaube, sondern die Vorstellungswelt des Autors (auf deren Darstellung ich hätte verzichten können). Es ist einer dieser unzähligen Versuche, Dinge – getragen vom Wunsch einer allumfassenden Toleranz – zu vereinen, Dinge, die nicht vereinbar sind. Um das Elaborat gänzlich unlesbar zu machen, sind Interviews mit Menschen wie der Landespastorin Annegrethe Stoltenberg über ihren Weg zum wiedergefunden Glauben eingefügt. Ein Blick in den Index verrät, welchen Lesertyp das Buch anspricht: Der Dalai Lama wird häufig zitiert, aber auch Hape Kerkeling. Hume hingegen wird man vergeblich suchen.


Ulrich Schnabel: Die Vermessung des Glaubens. München: Blessing 2008.

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