Man kennt Tschaikowskis Ballett unter dem Namen Der Nussknacker. Dass ich den Titel des zu Grunde liegenden Serapionsbrüder-Märchens von E. T. A. Hoffmann verwende, liegt daran, dass es auch das Opernhaus Zürich für seine diesjährige Aufführung so macht. In seinem Waschzettel gibt das Opernhaus den Grund dafür an: Tschaikowski lernte den Stoff nur in bearbeiteter Form kennen. Schon der erste, der dieser Bearbeitungs-Kette in Gang gesetzt hat, Alexandre Dumas der Ältere, hat dabei nicht nur den Rahmen der Serapionsbrüder entfernt – das geschieht bei E. T. A. Hoffmanns Märchen aus diesem Zylkus häufig – er hat auch den Binnenrahmen weggelassen. (Wenn ich mich so ausdrücken darf – es handelt sich ja um einen Binnenrahmen, der erst im Verlauf der Geschichte nachgeholt wird.) Es fehlt also die Vorgeschichte, die erklärt, wie es dazu gekommen ist, dass der Neffe Drosselmeier zum Nussknacker wird, und weshalb er und der Mausekönig einander spinnefeind sind. Was in Tschaikowskis Original-Ballett von E. T. A. Hoffmanns Märchen bleibt, ist eine zuckersüsse Geschichte um Liebe und um Krieg. (Dass so etwas beim Publikum funktioniert, hat Dumas selber in seinen Musketieren bewiesen.) Anders gesagt: Es ist eine Geschichte für Kinder geblieben – und, da halt der weihnachtliche Rahmen Hoffmanns doch noch hineinguckt, eine Geschichte für die aktuelle Jahreszeit.
Der deutsche Choreograf Christian Spuck hatte sich nun zum Ziel gesetzt, E. T. A. Hoffmanns unheimliche Fantastik (vgl. den Waschzettel) wieder vor das zucker-süsse Weihnachtsballett (dass.) zu stellen. So holt er etwa das Märchen von der in ein Nussmonster verwandelten Prinzessin Pirlipat zurück in die Handlung, das in E.T.A. Hoffmanns Version als Vorgeschichte zum Nussknacker erzählt wird. (dass.) Sein Vorhaben ist Spuck gar nicht übel gelungen. Zugegeben, die Aufführung biegt Hoffmanns Märchen seinerseits inhaltlich um. Der recht harmlose Mechaniker, Familienfreund und Pate Drosselmeier etwa wird in einen unheimlichen Zauberkünstler transformiert. Ort des Geschehens ist seine Werkstatt, ganz in schwarz gehalten und als alte Schaubühne dargestellt. Der Pate selber ist eine lange, hagere Gestalt, immer in Schwarz gekleidet und in seinen Bewegungen an eine Spinne gemahnend.
Im Übrigen haben wir auf der Bühne ein buntes Gewirr an Figuren, deren Hintergrund man nur erkennt, wenn man Hoffmanns Märchen kennt. Aber es ist im Grunde genommen auch nicht nötig, den Hintergrund der Figuren zu erkennen. Die skurril überdrehten Figuren, die mit skurril-überdrehtem Witz und Freude am Spiel dargestellt werden, erfreuen das Publikum auch so. Ein ebenso freudig spielendes Orchester, Darsteller und Darstellerinnen, von denen wirklich niemand abfiel, sondern alle auf hohem Niveau tanzten, rundeten diese ausserordentlich gelungene Aufführung vom 10. November 2017 ab. Das Publikum dankte es dem Ensemble mit häufigem Szenen- und frenetischem Schlussapplaus. Es waren zum Schluss auch (nicht nur vereinzelte!) Bravo-Rufe zu hören – es braucht viel, um ein Schweizer Publikum derart in Ekstase zu versetzen.
Ballett von Christian Spuck nach dem gleichnamigen Märchen von E.T.A. Hoffmann
Neufassung des Szenariums von Claus Spahn
Musik von Pjotr Tschaikowski (1840-1893)
Choreografie: Christian Spuck | Musikalische Leitung: Paul Connelly & Yannis Pouspourikas | Bühnenbild: Rufus Didwiszus | Kostüme: Buki Shiff | Lichtgestaltung: Martin Gebhardt | Choreinstudierung: Ernst Raffelsberger | Dramaturgie Michael Küster & Claus Spahn
Drosselmeier: Dominik Slavkovský
Marie: Michelle Willems
Fritz: Daniel Mulligan
Drosselmeiers Neffe / Nussknacker / Prinz: William Moore
Clown: Yen Han
Clown: Matthew Knight
Clown (Akkordeon): Ina Callejas
Prinzessin Pirlipat: Giulia Tonelli
Frau Mauserinks: Mélissa Ligurgo
Mausekönig: Cohen Aitchison-Dugas
Schneekönigin: Elena Vostrotina
Schneekönig: Jan Casier
Zuckerfee: Viktorina Kapitonova
Blumenwalzer Solo: Anna Khamzina
Blumenwalzer Solo: Alexander Jones
Ballett Zürich
Junior Ballett
Philharmonia Zürich
SoprAlti der Oper Zürich
Kinderchor der Oper Zürich