Franzobel: Das Floß der Medusa

Franzobel ist ein in Österreich recht bekannter Schriftsteller, Bachmann-Preisträger, hat zahlreiche Theaterstücke, Kurzprosa und auch Lyrik verfasst und ist eine Art „bunter Hund“ in der literarischen Welt. Gerade dies machte mich nicht neugierig auf sein Werk, zuviel Außendarstellung und aufgesetzt Ungewöhnliches – und wer sich selbst als „Querdenker“ apostrophiert, muss mit meiner Skepsis rechnen: Derlei darf man nicht verkünden, sondern kann es nur mittelbar, über das Geäußerte oder die Werke zum Ausdruck bringen. Ansonsten wirkt ein solches gegen den Strom schwimmen bestenfalls pubertär.

Und so war meine Erwartungshaltung eine recht bescheidene. Und die Überraschung, hier ein sehr lesbares und auch kluges Buch vorzufinden, umso erfreulicher. Der Autor orientiert sich in diesem Roman an einem historischen Geschehen: Die Medusa, ein großes Segelschiff, läuft 1816 (dem Jahr ohne Sommer) aufgrund der Unfähigkeit ihres Kapitäns vor der westafrikanischen Küste auf Grund; während die privilegierten Passagiere und die Crew sich über die Rettungsboote in Sicherheit zu bringen vermögen, müssen 147 Personen mit einem notdürftig zusammengebauten Floß vorlieb nehmen. Die ursprüngliche Absicht, dieses Floß im Schlepptau an die Küste zu ziehen, wird alsbald aufgegeben, das Tau gekappt und die Besatzung des Floßes bleibt hilflos auf der See zurück. Dort beginnt ein Massensterben, Mord, Totschlag, primitivster Egoismus bestimmen das Leben, schließlich werden nur 15 der ursprünglich 147 gerettet: Von denen einige bald darauf im Lazarett sterben, andere dem Wahnsinn verfallen. Dem Schiffsarzt Savigny ist es zu danken, dass die Nachwelt von der Katastrophe unterrichtet wird: Er beschreibt, wie der Wille zu überleben die finstersten Seiten der Menschen zutage bringt, sie überleben, indem sie die Schwachen vom Floß stoßen, zur Menschenfresserei übergehen und ihren eigenen Urin trinken. Doch zu Lebzeiten des Schiffsarztes will niemand davon etwas hören: Man empfindet es als äußerst unangebracht, an der dünnen Firnis der Zivilisation zu kratzen, droht Savigny mit Strafen, verbietet seine Schriften, die aber trotzdem Verbreitung finden. Schließlich wird der Kapitän zu der höchst lächerlichen Strafe von 3 Jahren Zuchthaus verurteilt, die gesellschaftliche Ungleichbehandlung wirkt bis in dieses Urteil nach.

Das Buch ist nichts für allzu zart besaitete Gemüter: Aber bei aller Brutalität und Grausamkeit, bei allem Ekel, den man beim Lesen empfindet, hat man doch nirgendwo das Gefühl, dass Franzobel diese Szenen instrumentalisiert, sie als Mittel zum Zweck einsetzt. All die dargestellten Schrecken gehören zu einer höchst realistischen Darstellung dessen, was unter extremen Umständen die Menschen anderen anzutun bereit sind, es ist kein Horror um des Effektes willen, sondern eine sich an der Wirklichkeit orientierende, gesellschaftliche Abgründe aufzeigende Entwicklung. Die Schilderung dieser Abgründe wird durch die glänzend gezeichneten Figuren noch eindrucksvoller: Ein arroganter, selbstgefälliger Kapitän (dessen Verdauungsstörungen oft seine einzige Sorge sind), ein Hochstapler, dessen angebliche Erfahrungen in der Seefahrt zur Ursache des Untergangs werden (und der, entsprechend seiner von sich selbst überzeugten Art, in keinster Weise zur Verantwortung gezogen wird, sondern eine Stellung als Hafenmeister in Afrika erlangt), ängstliche Offiziere, denen an ihrer Karriere gelegen ist (oder an der Verehrung einer hübschen Passagierin), Mitglieder einer wissenschaftlichen und philantropischen Gesellschaft, denen aber im entscheidenden Moment auch ihr eigenes Überleben dem Glück der Allgemeinheit vorgezogen wird oder auch die durch Brutalität und Rücksichtslosigkeit gezeichneten Seeleute, bei denen nur ganz selten so etwas wie Menschlichkeit durchschimmert: Etwas, das sie selbst nie erfahren haben. All diese Figuren haben etwas Originelles an sich, eine individuelle Zeichnung und einen einzigartigen Charakter, der Franzobel als einen sehr fein beobachtenden Schriftsteller und Psychologen ausweist. Es ist das ewig (Un-)Menschliche, das uns der Autor vor Augen führt, der schmale Grat, der etwa den von der Aufkllärung begeisterten Schiffsarzt in wenigen Tagen zum Menschenfresser werden lässt, zu jemandem, der tatenlos der Ermordung anderer zusieht. Dabei entsteht eine Form doppelter Gesellschaftskritik: Nicht nur, dass die Privilegierten jene auf dem Floß ohne große Gewissensbisse ihrem Schicksal überlassen, auch auf dem Floß selbst gibt es alsbald die Teilung in stark und schwach, werden Ressentiments ausgelebt, die unter einen dünnen Schicht von Zivilisation verborgen waren.

Das Buch liest sich schnell und flüssig, es ist – wie erwähnt – voller Ungeheuerlichkeiten und penibel geschilderter Abgründe und Grausamkeiten, ohne aber in splatterfilmartige Exzesse abzugleiten. Genau das macht das Buch noch schwerer erträglich: Ein Übermaß an Blut und Horror erlaubt immer auch Distanz, nimmt durch die Übertreibung der Darstellung ihre Grausamkeit. Hier aber ist alles real, vorstellbar, der Verlust jeglicher moralischer Schranken nachvollziehbar, „menschlich“. Unsere Zivilisation stellt sich als etwas höchst Oberflächliches dar: Sie ist nicht nur ein äußert fragiles Gebilde, das alsbald unter extremen Bedingungen außer Kraft gesetzt wird, sie will auch von all diesen kaum verborgenen Wesen nichts wissen. Weshalb man dem Ereignis mit Verboten glaubte Herr werden zu können: Das Publikationsverbot für Savigny zeigt die Hilflosigkeit der aufgeklärten Welt vor Ereignissen, die schlicht nicht gedacht (und schon gar nicht erlebt) werden dürfen. Ein sehr lesens- und empfehenswertes Buch.


Franzobel: Das Floß der Medusa. Wien: Zsolnay 2017.

2 Replies to “Franzobel: Das Floß der Medusa”

  1. Schon in meiner Kindheit gab es einen Pappkarton, in dem meine Eltern Kunstreproduktionen untergebracht hatten, Blätter aus Abreißkalendern und Kunstpostkarten. Alles war unsortiert und wartete auf eine spätere Durchsicht. Als ich vor kurzem in der Buchhandlung den Umschlag des neuen Buches von Franzobel, Das Floß der Medusa, sah, kam mir sofort in Erinnerung, dass in diesem Karton auch eine Reproduktion des Bildes von Eugene Delacroix aufbewahrt wurde, „Das Floß der Medusa“. Vor einem halben Jahrhundert hatten wir im Haushalt nur ein zweibändiges Lexikon, erst 1985 kam das mehrbändige „Konversations-Lexikon“ Meyers in die Wohnung – es war mühevoll, sich zu informieren. Heute gibt es elektronische Hilfsmittel, die man sich damals nicht in den blühendsten Phantasien vorstellen konnte. Und jetzt liest man: das Gemälde wurde 1819 geschaffen, es wurde somit „Zeitgeschichte“ abgebildet, da sich die Katastrophe der „Medusa“ erst drei Jahre zuvor ereignet hatte. Dass Delacroix mit dem Gemälde in Paris einen Skandal erzeugte, kann man sich lebhaft vorstellen, wurden doch mit der Darstellung dieses Ausbruchs menschlicher Verzweiflung brutal die Illusionen der bis zur napoleonischen Zeit dominierenden klassizistischen Kunst zerstört. Dabei scheint für die überlebenden Menschen auf dem Floß in dem Augenblick, der auf dem Bild wiedergegeben wird, durchaus die Rettung in Sicht zu sein. Auf dem Boden türmen sich die Leiber der Toten und Sterbenden zu einer Pyramide. Der Kommentar zur Größe des Flosses, das auf dem Gemälde angeblich kleiner erscheine als in Wirklichkeit – die Fläche habe 8 x 15 Meter betragen – erscheint als grotesk – sollten selbst auf einer solchen Fläche mehr als 140 Ausgesetzte über längere Zeit Platz gefunden haben? Wieder muss ein Kinofilm damals wie heute dafür herhalten, Maßstäbe für das Unvorstellbare herbeizuführen: das wäre etwa das kleine Boot der nach der Meuterei auf der „Bounty“ ausgesetzten Anhänger des Kapitäns Bligh, das über Tausende Kilometer sicher der Rettung entgegen gesteuert wurde, ohne dass ein einziger Mann ums leben gekommen wäre. Doch Delacroix konnte mit seiner Malerei wohl dennoch auch das Grauen vorstellbar machen, das mit den nur wenige Jahre zurückliegenden napoleonischen Kriegen verbunden war. Französische Maler stellten den Kaiser dar, der Ende 1807 über das schneebedeckte und von Leichen übersäte Schlachtfeld von Preußisch-Eylau ritt, im Kugelhagel gingen in Minuten ganze Regimenter unter, die entsprechend der Kolonnentaktik Napoleons gegen die Münder der Kanonen anstürmten, und während des Rückzuges der Franzosen aus Moskau 1812 kam es ebenfalls zu grausamen Szenen des Ausbruchs bisher als unmenschlich geltender Verhaltensweisen und des Kannibalismus – etliche Bildbetrachter dürften nunmehr dennoch vorbereitet gewesen sein. Vorbei war es mit den überlieferten, noch ritterlich anmutenden Gesten der Zeit des Österreichischen Erbfolgekrieges („Meine Herren Franzosen, schießen Sie zuerst!“ 1746), die Französische Revolution schuf in der Zeit des Terrors bisher schwer vorstellbare Vernichtungsorgien, etwa nach 1793 in der Vendee oder bei den Massenerschießungen durch den „Mitrailleur von Lyon“, Joseph Fouche, den Stefan Zweig in Szene setzte.
    Schließlich wurde vor einigen Tagen die russische Oktober-Revolution von 1917 mit dem spärlich vorhandenen Bildmaterial in Szene gesetzt. Zwar sollte im Schulunterricht der blutigen Erstürmung des Winterpalais am 25. Oktober 1917 unsere Begeisterung erwecken, wie sie im Film von Sergej Eisenstein dargestellt wurde – dass das alles so nicht stimmte, wurde vor 1988 nur hinter vorgehaltener Hand von denen mitgeteilt, die Zugang zu westlichen Medien hatten. Dass ab 1918 nicht nur der Terror der Weißen Millionen von Todesopfern forderte, sondern es während der großen Hungersnot in der Ukraine Anfang der 1930er Jahre sowie während der Belagerung Leningrads durch die faschistische Wehrmacht auch wieder zu Kannibalismus kam, wurde uns in den Schulen nicht mitgeteilt und erfuhren wir erst aus sowjetischen Presseorganen der Zeit der „Perestrojka“.
    Den Roman von Franzobel werde ich wahrscheinlich nicht lesen. Ich bin im Moment auf der Suche nach Literatur anderer Art.

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