„Kannst ja“, habe ich mir gesagt (denn ich duze mich normalerweise), „kannst ja nicht immer davon schwärmen, wie gut der späte Dickens ist, vor allem im Vergleich mit dem mittleren, dem sentimental-larmoyanten des Oliver Twist oder des David Copperfield, ohne je einmal eines der Spätwerke vorzustellen.“ So habe ich, als nun die Folio Society dieses Jahr A Tale of Two Cities in einer Leinenausgabe, fadengeheftet und mit Reprints der Original-Illustrationen von Dickens‘ Leibillustrator „Phiz“ versehen, im Angebot hatte, nicht widerstehen können. Zumal ich A Tale of Two Cities tatsächlich noch nicht gelesen hatte.
Den Stoff gefunden hat Dickens bei einer Aufführung eines Stücks seines Freundes Wilkie Collins. Daneben hat er alles, was die Französische Revolution betrifft, aus den Werken eines andern Freundes, Thomas Carlyle, geplündert – mit Carlyles Einverständnis allerdings. Es ging ihm dabei auch nicht um historische Fakten, sondern um die Stimmung. (Obwohl Dickens 1859, also in der Retrospektive, über die Französische Revolution schreibt, ist das hier kein historischer Roman. Die bekannten Agenten jener Zeit fehlen – gerade mal, dass sehr satirisch-zynisch eine Levée von Monseigneur, einem anonymen Adligen, eventuell Louis XVI, beschrieben wird. Das aber, ohne Namen zu nennen. Und zwei oder drei Dinge, die sich tatsächlich ereignet haben, bringt Dickens zwar in seinen Text ein, schreibt sie aber andern Figuren zu.)
Dickens erzählt eine Familiengeschichte. Er fokussiert auf eine französische Adelsfamilie und erzählt deren Erlebnisse in der Zeit von 1757, als der Absolutismus noch fest im Sattel sass, bis 1794, als der Blutrausch der Revolution auf seinem Höhepunkt stand, als die Revolution ihre eigenen Kinder frass. Dickens erzählt rasant, ohne je hektisch zu werden. Als Leser wird man sich erst im Nachhinein dessen bewusst, dass die erzählten Ereignisse fast ein halbes Jahrhundert umfassen.
Die Figuren von A Tale of Two Cities haben nicht die Berühmtheit erlangt, die einem Oliver Twist, einem David Copperfield, einem Uriah Heep zugekommen ist. Zu Unrecht. Denn bis weit in die Nebenfiguren hinein stellt Dickens Persönlichkeiten vor, die mit liebenswerten und weniger liebenswerten Zügen versehen, jede ihren eigenen Charakter haben. Dabei wird er nie karikieren, übertreibt nie.
Im Zentrum steht der Arzt Dr. Manette: Jahrelang unschuldig mit einer Lettre de cachet in der Bastille gefangen gehalten, kommt er schliesslich frei – noch vor der Revolution. Er konnte sich in der Bastille nur körperlich am Leben erhalten, indem er die handwerkliche Tätigkeit eines Schuhmachers aufnahm. Doch diese Tätigkeit übernimmt seine ganze Person. Selbst nachdem er befreit worden ist, braucht er seine Werkbank und seine Instrumente, selbst dann bezieht er sich auf sich selber nur in der dritten Person und mit der Nummer seiner Zelle. Es braucht einige Zeit und die ganze Liebe seiner Tochter, ihn aus diesem Zustand zu reissen; und selbst dann wird er im Verlauf des Romans immer wieder darin zurückfallen, wenn er in Stresssituationen gerät. Selten habe ich den psychischen Impakt einer langjährigen Einzelhaft eindrücklicher dargestellt gesehen wie bei diesem Dr. Manette. (Und der Erzähler bleibt bei seinen Schilderungen absolut objektiv und neutral – was das Ganze nur noch erschreckender macht.)
Dr. Manettes Tochter Lucie: Bei der Inhaftierung ihres Vaters wurde sie von Paris nach London gebracht. Ihren freigelassenen Vater wird sie nach London bringen. In London wird sie den französischen Emigranten Charles Darney kennen lernen, der wegen Verrats vor Gericht gestellt wird. Darney ist in Wahrheit der Marquis Evrémonde, der auf seinen Titel verzichtet hat, weil er mit der Art und Weise, wie der französische Hochadel seine Untertanen behandelt, nicht einverstanden ist. Darney wird von Sidney Carton gerettet, der das Gericht auf die bemerkenswerte Ähnlichkeit aufmerksam macht, die zwischen dem Angeklagte und ihm selber herrscht, was die Aussage der angeblichen Augenzeugen entwertet. Später wird Darney-Evrémonde nach Paris reisen, um seinen Verwalter aus dem Gefängnis der Revolution zu befreien, in das er geraten ist. Dummerweise gerät er als rückgekehrter Emigrant und Adliger selber in den Strudel der Verhaftungen, und der Rest des Buchs dreht sich um die verschiedenen Versuche seiner Freunde und seiner Familie, ihn da wieder heraus zu reissen.
Auch diese Freunde sind ausserordentlich gut gezeichnete Charaktere: Jarvis Lorry ist ein führendes Mitglied einer englisch-französischen Bank. Er ist absolut loyal – zuerst gegenüber seiner Bank, dann aber in fast gleichem Ausmass gegenüber seinen Freunden. Er ist der Typ, bei dem man versteht, warum noch weit in die 1970er Jahre hinein der „Banquier“ eine hohe gesellschaftliche Reputation besass; anders als der ihm folgende „Banker“, der ein Synonym für egoistisches und geldgieriges Verhalten geworden ist. Lorry nun ist schon weit über 70, als er von London nach Paris reist, um den Kunden seiner Bank – die meisten emigrierte Adlige – noch so viel von ihrem Vermögen zu retten, wie es unter den Umständen möglich ist. Einmal in Paris wird er auch in die Befreiungsversuche um Darnay-Evrémonde verstrickt, wobei er tatkräftig mithilft.
Auch Nebenfiguren sind voll prallen Lebens und keineswegs zu vernachlässigen. Da ist Jerry Cruncher, Gehilfe und Leibwächter Lorrys. Im Nebenberuf ist er Totengräber, aber von der umgekehrten Sorte: Er gräbt Tote aus, um den Leichnam an anatomische Institute zu verkaufen. (Zum Schluss wird er dieser Tätigkeit abschwören und dafür ehrlicher und ordentlicher Totengräber werden.)
Als nächstes ist Ernest Defarge zu nennen, meist einfach Monsieur Defarge. Ehemaliger Bediensteter von Dr. Manette, hat er nach dessen Verschwinden in einem Pariser Quartier eine Weinhandlung und -schenke eröffnet. Er ist führendes Mitglied einer Untergrundbewegung, die die Französische Revolution vorbereitet und von Zeit zu Zeit auch mal einen Adligen umbringt, so z.B. den Onkel von Evrémonde.
Monsieur Defarge ist vielleicht der einzige im Buch, der an die Ideale der Revolution glaubt. Selbst seine Frau, Madame Defarge (eigentlicher Vorname: Therese), benutzt die Revolution und die Untergrundbewegung nur, um sich an der Familie Evrémonde zu rächen, die den Tod ihres Bruders und ihrer Schwester auf dem Gewissen hat.
Um im Bereich der Bediensteten zu bleiben, wäre als nächstes Miss Pross zu nennen, Lucies langjährige Gouvernante und spätere Haushälterin. Auf sie komme ich noch.
Selbst relativ unwichtige Nebenfiguren, wie der Anwalt Stryver sind mit Liebe und Freude am Detail gezeichnet. Ambitiös verfolgt er im Grunde genommen nur seine Karriere. Als man ihm klar macht, dass ein Heiratsantrag bei Lucie keine Chance hätte, vergisst er sie sehr rasch, um statt ihrer eine reiche Witwe zu heiraten, deren Söhne er zu seinen Nachfolgern trainiert.
Bleibt Sidney Carton. Irgendetwas – wir erfahren nie, was es war – muss seine Initiative und Tatkraft gebrochen haben, und er begnügt sich mit einer schlecht bezahlten Tätigkeit als Amanuensis von Stryver. Depressiv und seine Arbeit nur unter Alkohol-Einfluss ausüben könnend, präsentiert er sich seiner Umgebung bestenfalls als ein wenig liebenswürdiger Langweiler. Er gesteht Lucie seine Liebe, wohl wissend, dass sie ihn nie akzeptieren könnte, weshalb er ihr nicht einmal einen Heiratsantrag macht. Lucie erblickt für einen Moment den wahren Charakter Cartons. Als alle Versuche von Freunden und Familie, Darnay vor dem Tod auf dem Schafott zu retten, gescheitert sind, läuft Carton zu Hochform auf. Es gelingt ihm, die Ähnlichkeit mit Darnay auszunützen und an seiner Stelle zu sterben, während Darnay von der Familie nach England gebracht wird. Selten habe ich einen so ambivalenten Charakter so interessant dargestellt gefunden, wie hier den Sidney Carton. (Während Darney und vor allem Lucie im Grunde genommen völlig uninteressante Gutmenschen sind – von Dickens auch absichtlich so gezeichnet. Vor allem Lucie besteht offenbar nur aus Liebe und Menschenfreundlichkeit. Sogar der sie liebende Carton nennt sie Stryver gegenüber „das blonde Püppchen“.)
Der eigentliche Star aber, die eigentliche Hauptfigur von A Tale of Two Cities, ist die Französische Revolution. Paris und London, die beiden Städte im Titel, treten hinter ihr zurück, indem Paris vor allem der Ort der Revolution ist, und London der Paris gegenüber gestellte Ort der Ruhe und Stille, ein Idyll. Wenn das Ancien Régime als kalt, menschenverachtend und brutal dargestellt wird, ist die Französische Revolution heissblütig, wütend, dürstend nach Blut. Ihre Personifizierung ist Madame Defarge.
Die Climax des Romans ist die Szene, wo eben diese Madame Defarge in die Wohnung Darneys eindringt. Jarvis Lorry, Dr. Manette, dessen Tochter und ihr Mann Charles haben Paris bereits verlassen. Aber wenn Madame Defarge das erfährt, wird sie dafür sorgen, dass man sie an der Grenze noch aufhält. Die einzige, die zwischen diesem Schicksal, die den Tod wohl nicht nur Darneys bedeutet hätte, und Therese Defarge steht, ist die noch zurückgebliebene Miss Pross. Der Kampf zwischen den beiden einander ebenbürtigen Frauen, zuerst geistig, dann auch physisch, endet mit dem Sieg der Engländerin. (Wenn man will, kann man das als Sieg der Liebe – denn Miss Pross‘ Motivation war ihre umfassende Liebe zu Lucie – über den Hass betrachten.) Es ist allerdings ein Pyrrhus-Sieg: Der Pistolenschuss der Französin, den Miss Pross von sich ab- und auf Madame Defarge selber hinwenden kann, tötet zwar die Furie – aber Miss Pross ertaubt für den Rest ihres Lebens.
Ein Roman mit Happy Ending also? Immerhin können ja Charles Darney und Lucie den Schrecknissen der Revolution entfliehen. Aber Dickens ist ein zu guter Autor, als dass es ganz so ist, wie es scheint. Es fällt auf, dass er nirgends eine Vorschau in die Zukunft des Paares nach den Ereignissen in Paris bringt. Wir sehen nur deren Tochter, ihrerseits nun glückliche Grossmutter, die im Kreis ihrer Enkel Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt. Und man stellt sich als Leser die Frage: Kann ein Paar wirklich noch glücklich sein, wenn es weiss, dass es sein Glück dem Handeln eines Dritten verdankt, eines Mannes, der der wie auch immer unscheinbare Rivale des Gatten war, eines Mannes, der den Gatten gerettet hat unter Hingabe des eigenen wie auch immer verpfuschten Lebens? Dickens schweigt sich aus.
Kann ich also meine Empfehlung des späten Dickens aufrecht erhalten? Unbedingt. Der Roman ist spannend und beinhaltet kaum sentimental-larmoyante Szenen. Die wenigen derartigen Momente, die sich Dickens erlaubt, wirken eher wie eine kleine Pause, die der Autor sich, seinen Figuren und nicht zuletzt seinen Lesern gestattet, bevor sich alle wieder ins Getümmel stürzen. Dieses Buch ist eines derer, wo man Star-Kritiker sein möchte, um es in die Fernsehkamera zu recken und „Lesen!“ zu rufen.