Erwin Schrödinger: Die Natur und die Griechen

Erwin Schrödinger hat sich immer wieder auch auf für ihn fremde Gebiete gewagt: Etwa mit dem Buch „Was ist Leben?“ in den Bereich der Biologie (und das Buch soll in den nächsten Monaten hier vorgestellt werden) oder eben in die Philosophie wie mit dem vorliegenden Buch.

Schrödinger geht es vor allem um den Bezug der Vorsokratiker bzw. der Atomisten zur heutigen Physik. Wobei er zu Recht am Beginn darauf aufmerksam macht, dass das Revolutionäre der ersten Naturphilosophen in der Annahme einer prinzipiellen Erklärbarkeit der Welt liegt. Während man zuvor bei Homer oder Hesiod auf Mythen und Götter bei Bedarf zurückgegriffen hat, ließen die ionischen Denker Mythologeme außen vor und suchten einzig durch verstandesmäßige Überlegungen dem Aufbau der Welt auf die Spur zu kommen. Dabei ist es zuerst völlig belanglos, ob diese Entwürfe (aus heutiger Sicht) abenteuerlich anmuten oder schon einiges Moderne vorwegnehmen: Es ist die Idee der dem Menschen begreifbaren Welt, die hier erstmals zum Tragen kommt (im Unterschied zum astronomischen Wissen der Babylonier, die sich auf eine bloße Datensammlung beschränkten, aber die Frage nach dem „warum“ nicht zu stellen schienen (der Konjunktiv scheint mir hier angebracht, da wir kaum etwas über die diese Forschung begleitenden Ideen wissen).

Mit dieser Erklärbarkeit stellt sich ganz automatisch eine erkenntnistheoretische Frage: Wie sicher ist das Wissen, das wir von der Welt haben bzw. das uns von den Sinnen vermittelt wird und wem gebührt der Vorrang in epistemologischer Hinsicht – diesen Sinnen oder dem ordnenden Verstand? Wie gering die Fortschritte der Philosophie sind kann man daran ermessen, dass diese Frage noch heute gestellt wird (wenngleich die wahrscheinlich am ehesten treffende Antwort jene ist, die beiden Bereichen ihre Bedeutung zuerkennt und die Frage nach dem Primat am besten ignoriert). Und so haben sich auch die Griechen einmal mehr dieser, dann jener Antwort zugeneigt, wobei Schrödinger eine interessante Interpretation des Homo-mensura-Satzes vorlegt: Dieser sei möglicherweise nicht – wie zumeist angenommen – erkenntnistheoretisch gemeint, sondern „könnte sehr wohl eine rein menschliche Haltung in politischen und sozialen Fragen bezeichnen, nämlich, daß Gesetz und Sitte für die Regelung des menschlichen Zusammenseins aus der Natur des Menschen selbst zu schöpfen seien, nicht aus Vorurteilen der Tradition oder irgendwelchen Aberglaubens“. Leider können wir Protagoras zu seinen Intentionen nicht mehr befragen; würden sie aber dieser Auslegung entsprechen, so wäre das eine äußerst kluge und auch moderne Sichtweise (ich würde solche Überlegungen Protagoras ohne weiteres zutrauen, sein Denken war überaus scharfsinnig und sehr viel klüger als etwa das Platos, auch wenn die Philosophiegeschichte – leider – ein anderes Urteil gefällt hat (das aber auch mit der Überlieferungssituation zu tun hat)).

Selbstverständlich widmet Schrödinger den Atomisten (Leukipp, Demokrit und später Epikur) große Aufmerksamkeit, wurde doch die Atomtheorie später scheinbar bestätigt und hat Eingang in rezente Lehrbücher gefunden. Aber er ist keineswegs ein blinder Verehrer, sondern weist darauf hin, dass unser heutiger Begriff von Materie mit dem der Atomisten des alten Griechenlands nichts zu tun hatte. Hingegen gibt es prinzipielle Überlegungen, die fast zwangsläufig zu einer solchen Theorie führen: Die Frage der infiniten Teilbarkeit der Materie, die zu einem schließlich Unteilbaren, zu einem diskreten Universum führt (zu Planck-Zeit, Planck-Länge und Planckschen Wirkungsquantum). Wobei hier ein ebenfalls auch uns noch beschäftigendes Problem auftaucht: Wenn es keinen leeren Raum gibt und alle Atome in ständiger Bewegung sind, so gibt es eine bestimmte Konfiguration, die alle nachfolgenden Konfigurationen bestimmt und damit die Determiniertheit allen Weltgeschehens zur Folge hat. Auch dies wieder ein Zeichen, dass unsere menschliche Sichtweise nicht immer zu Lösungen, sondern zu bekannten Antinomien führt (eigentlich wenig verwunderlich: Warum sollte der Verstand eines Primaten solche Probleme lösen können, die doch für sein Überleben bislang vollkommen zu vernachlässigen waren?).

Die Annahme, dass das Naturgeschehen zu verstehen sei, hat (eigentlich überraschenderweise, denn dies war keineswegs selbstverständlich) uns zu einem unglaublichen Aufstieg verholfen und uns wissenschaftliche Erkenntnisse beschert, mit denen der Mensch aufgrund seiner evolutionären Herkunft große Schwierigkeiten hat umzugehen. Aus der Tatsache unseres Wissens lässt sich aber in keiner Weise folgern, dass wir immer weiter in der Lage sein werden, den Aufbau der Welt zu begreifen. (Dies mag einer erst zu schaffenden Superintelligenz vorbehalten sein, wobei wir diese Intelligenz vielleicht erschaffen können, aber keineswegs verstehen müssen.) Schrödinger gelingt es in diesem Buch, bestimmte „ewige“ (über 2500 Jahre bestehende) Probleme ausfindig zu machen und zeigt deren Vorhandensein bei Denkern auf, die uns antiquiert anmuten. (Wobei ich von einem solchen Verdikt die Vorsokratiker sehr viel eher ausnehmen würde als die verstiegenen, rationalistischen Spekulationen eines Plato.) Seine „unphilosophische“ Herangehensweise ist in jedem Fall anregend und wirft so manche spannende Fragen auf.


Erwin Schrödinger: Die Natur und die Griechen. Zürich: Diogenes 1989.

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