Leo Löwenthal: Falsche Propheten

Seit zwei oder drei Monaten wird mir auf Twitter & Co. von diesem Buch, bzw. dem ersten und titelgebenden Essay darin, in höchsten Tönen vorgeschwärmt, dieser oder jener Satz auch schon mal zitiert. Löwenthal habe, so der Tenor, die Argumentationsstrukturen nicht nur der antisemitischen Hassprediger der 1940er in den USA bloss gelegt, sondern damit auch die der heutigen rechtspopulistischen und rechtsextremen Politiker, ob nun in den USA oder in Europa.

Dem kann ich nur bedingt zustimmen. Löwenthal untersucht (oder, besser wäre wohl: beschreibt) ein örtlich und zeitlich limitiertes Phänomen, das jener seltsamen Gestalten, die in den 1940ern in den USA versuchten, aus einem vorhandenen Unbehagen in der Bevölkerung Profit zu schlagen, indem sie die schlechte Situation von Teilen der Bevölkerung als Resultat jüdischer Umtriebe darstellten. Dabei wird das Problem, z.B. die hohe Arbeitslosigkeit, nicht versachlicht, auf strukturelle Probleme oder Fehler zurückgeführt, sondern personalisiert. Immer ist es eine Gruppe von Menschen, in vorliegendem Fall ‚die Juden‘, die die Schuld am Übel tragen. Dadurch wird suggeriert, dass das Problem gleichzeitig ungeheuer einfach zu lösen wäre (einfach ‚die Juden‘ von den verborgenen Schalthebeln der Macht entfernen) und dass es unlösbar ist (denn so personalisiert es klingt, ‚die Juden‘ verantwortlich zu machen, so schwierig ist es, diese übermächtigen Juden tatsächlich dingfest zu machen). Das appelliert an uralte menschliche Denkstrukturen, die die eigene Gruppe oder Herde immer in Nahrungsmittel-Konkurrenz zur anderen sehen. Die von den antisemitischen Agitatoren der 1940er verwendeten Argumentationsstrukturen ähneln tatsächlich denen rechts-nationalistischer Politiker von heute: Es wird ein Feindbild aufgebaut, gegen das anzukämpfen sich lohnt, weil der Sieg zwar schwierig scheint, aber nicht unmöglich ist. Dieser Feind wird auch heute von Rechtspopulisten einerseits als übermächtig dargestellt, der Agitator dementsprechend als Märtyrer für die gute Sache. Andererseits ist der Feind zugleich auch schwach (hilflos, wie es Löwenthal in der Überschrift von Kapitel V nennt): Der Jude der 1940er ist zugleich der reiche Bankier, der über das Schicksal von Millionen mit einem Federstrich bestimmt, und der Kerl von nebenan, der dem kleinen Arbeiter in der Autoindustrie seinen Job als Fliessbandarbeiter wegnimmt. Mutatis mutandis arbeiten ein Donald Trump, ein Recep Tayyip Erdoğan, ein Vladimir Putin, ein Gauland noch heute mit dieser Argumentation. Sie wenden sich denn auch nicht (oder höchstens ein bisschen, versteckt unter andern Argumenten – Orbán!) gegen ‚die Juden‘. Der Feind eines Staatschefs kann nur ‚das Ausland‘ sein, ob nun Mexiko, China oder die EU. Und Gauland hat in ‚den Flüchtlingen‘ ein lohnenderes, weil offensichtlicheres Motiv gefunden, die Angst vor dem Fremden anzuheizen. (Was nicht heisst, dass man, falls man eine Endlösung für ‚die Flüchtlinge‘ gefunden hat, nicht auch eine solche gleich noch für ‚die Juden‘, ‚die Schwulen und Lesben‘, ‚die Linken und Liberalen‘ etc. in Anwendung bringen würde. Solche Ideologien können nur überleben, wenn ein Feindbild existiert. Hat man einen Feind tatsächlich besiegt, muss der nächste her.)

Der Grund, warum man Löwenthals Text nicht 1:1 auf heute anwenden darf: Seine Agitatoren stellten eine zeitlich und örtlich begrenzte Gruppe dar. Schon Löwenthal erhebt in seinem Text nirgends den Anspruch, mit einer Analyse der verbalen Strukturen antisemitischer Agitation in den USA, Phänomene wie Hitler oder Mussolini erklären zu können. Die Antisemiten, die Löwenthal schildert, kennt heute niemand mehr. Sie haben keine Spuren in den Annalen der Geschichtsbücher (wie man so grossartig und pleonastisch formuliert) hinterlassen. Sie konnten letzten Endes nie eine Mehrheit eines Volks, einer Nation, von sich überzeugen. Weshalb gelang es aber Hitler oder Mussolini? Beide kamen ja nicht zwar nicht ohne Anwendung von Gewalt, aber letzten Endes als gewählte Volksvertreter an die Macht. Auch Trump, Putin, Orbán oder Erdoğan, so sehr ihre Argumentationsstrukturen denen der US-amerikanischen Antisemiten der 1940er ähneln, vermögen es, grosse Teile ihrer Nation hinter sich zu bringen. Gauland ist auf gutem Wege dazu. Diese Frage kann Löwenthals Text so wenig beantworten, wie jene, was man denn gegen diese Form der Agitation unternehmen können. Wie jeder Aufklärer ist auch Löwenthal gegenüber solcher Agitation hilflos: Aufklärung und Rückführung des Problem auf seine in der Sache begründeten Quellen – die Wörter ‚Sache‘ und ‚Ursache‘ sind nicht umsonst verwandt – weisen weniger Sex-Appeal auf und bieten weniger rhetorische Möglichkeiten, als der Sturm auf ein personalisiertes Feindbild.

So also bietet Löwenthal neben einem – relativ banalen – Ansatz zur Analyse der Argumentation von Rechtspopulisten wenig. Er versucht eine psychoanalytische, auf Freud basierte Analyse der Motive jener Agitatoren. Nur bringt das wenig. Die übrigen in Schriften 3 versammelten Aufsätze helfen auch nicht weiter. Individuum und Terror bringt erste Berichte von Überlebenden der Konzentrationslager, die u.a. aufzeigen, dass es auch in diesen Lagern so etwas wie ein Stockholm-Syndrom gab – eine Identifikation von Herrschern und Beherrschten. Vorurteilsbilder. Antisemitismus unter amerikanischen Arbeitern will aufzeigen, wie verbreitet der Antisemitismus in der US-amerikanischen Unterschicht ist. Als wissenschaftliche Untersuchung ist der Aufsatz aber wertlos, weil Löwenthal offen zugibt, dass bei der Untersuchung Suggestivfragen verwendet wurden. Autorität in der bürgerlichen Gesellschaft. Ein Entwurf könnte eine notwendige Ergänzung zum ersten Aufsatz Falsche Propheten darstellen, wenn hier nicht das Ganze unter dem seinerseits restriktiven und autoritären neomarxistischen Blickwinkel des Frankfurter Instituts für Sozialforschung stünde, wo es noch vor Löwenthals Exil in den USA geschrieben wurde. Ein Anhang, Die erste Szene in Shakespeares »Sturm«, will aufzeigen, wie schon in Shakespeares Stück feudale und bürgerliche Autorität aufeinander prallen, indem mit Mikro-Untersuchungen Satz um Satz seziert wird. Kann man lesen, muss man nicht.

Alles in allem also muss man sagen, dass der erste und titelgebende Aufsatz allenfalls interessante Denkanstösse birgt, aber keineswegs die grosse Erleuchtung bringt und leider auch kein Mittel gegen rechtspopulistische Agitatoren aufzeigt.


= stw 903. Nachdem die 1. Auflage von 1990 stammt, wurde im Jahr 2017 dann eine zweite notwendig. Geschicktes Marketing des Verlags oder auf Grund einer Art ‚Grass-Root-Bewegung‘ in den sog. Social Media? Ich weiss es nicht.