Hermann Burger: Kurzgefasster Lebenslauf / Bork / Diabelli

Dem Lyriker Burger scheint der Sprung aus der Provinz besser und rascher gelungen zu sein als dem Verfasser von Kurzprosa.

Kurzgefasster Lebenslauf und andere frühe Prosa

So lautet der Langtitel des ersten Abschnitts von Band 2 der neuen Burger-Werkausgabe. Mit andern Worten: Juvenilia. (Wenn man bei einem so jung verstorbenen Autor wie Burger denn überhaupt von Juvenilia sprechen kann.) Tatsächlich findet der Leser hier wenig Interessantes, kaum etwas oder gar nichts, das über die Provinz hinausweisen würde. Allenfalls das titelgebende Stück, Kurzgefasster Lebenslauf, in dem das erzählende Ich von einer Operation im Alter von fünf Jahren erzählt. Seit dieser Operation ist dieses Ich sich nicht sicher, ob es noch immer unter Narkose steht oder ob es bereits gestorben ist. Allenfalls ist es ansonsten höchstens dann ein ‚Ausbruch aus der Provinz‘, wenn man schon die Tatsache als solchen auffasst, dass das Landei Burger (er stammt aus dem Niemandsland zwischen Aarau und Luzern) die hier zusammen gefassten Stücke in Neujahrs- und ähnlichen Blättern der Kantonshauptstadt Aarau publizieren durfte. Sehr auf Aarau beschränkt sind denn auch die Themen der Aufsätze, Und viel mehr als Schüleraufsätze sind das noch nicht. Für mich persönlich war es interessant, festzustellen, dass offenbar das Zeichnen in der Altstadt nicht erst zu meiner Zeit und von meinem Lehrer am dortigen Gymnasium eingeführt worden ist.

Bork – Prosastücke

Hier erweitert sich Burgers Provinz: Von Aarau kommen wir nun in die ganze Schweiz. Die Nachtwache im Panzer z.B. ist so typisch schweizerisch, mit ihrem Aufstand gegen eine geheiligte Schweizer Tradition der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts: die Miliz-Armee mit ihren regelmässigen und regelmässig vom Soldaten als sinnlos empfundenen sog. ‚Wiederholungs-Kursen‘, den ‚WKs‘. Hier wird im wahrsten Sinne des Wortes diese Tradition in der Form eines Panzers demontiert. Einen ähnlichen Aufstand gegen die Tradition stellt Das Lochbillard dar, in dem Burger mit der (bis heute kolportierten) Meinung aufräumt, dass zwischen 1933 und 1943 alle Schweizer auf einen Mann den aus Deutschland überschwappenden Nationalsozialismus abgelehnt hätten. Die Pointe des Textes ist, dass hier der Nationalsozialist die Oberhand behält – was in der Geschichte dann ja nicht der Fall war.

Einzig wirklich interessant ist Bork, der titelgebende Text. Hier taucht zum ersten Mal der rätselhafte und nicht zu verstehende Aussenseiter auf. Es ist keineswwegs ein den andern irgendwie (und sei es auch nur moralisch) überlegener Aussenseiter. Burgers Aussenseiter ist das arme, halb verhungerte Schwein in der Provinz, das zum Schluss vom Hagel erschlagen wird.

Diabelli – Erzählungen

Erst mit diesen Erzählungen hat Burger die Provinz überwunden und seinen eigenen Stil ganz gefunden. Da ist Der Orchesterdiener. In einem weiteren fiktiven Lebenslauf bewirbt sich da einer um die wegen Abgangs durch Tod frei gewordene Stelle eines Orchesterdieners, des Mannes also, der den ausübenden Künstlern die Stühle, Notenpulte und ähnliches bereit stellt. Wortgewaltig beweist er dem Direktorium der Tonhalle, dass er, gerade, weil er im Gegensatz zu seinem Vorgänger Urfer nichts könne, der richtige Mann sei, indem sein Vorgänger eben durch zu vieles Wissen und Können die richtige Ausübung der Kunst behindert habe. Dies beweist er in durchaus paradoxer Manier, indem er selber hohe Musikalität und grosses musik-theoretisches Wissen zur Schau stellt.

Und dann ist da natürlich Diabelli, ein Prunkstück literarischer Kurzprosa. ‚Diabelli‘ nennt sich ein Zauberer, der um einen Beitrag für die Zeitschrift der Zauberer-Innung gebeten, wortreich erklärt, warum er diesen Beitrag nicht schreiben könne. (Das klingt nach einer romantischen Erfindung, aber sowohl ‚Diabelli‘ wie die Zeitschrift gibt bzw. gab es.) Eine weitere paradoxe Situation also. Und auch wenn Diabelli ’nur‘ Variété-Künstler ist, dürfen wir wohl doch dessen paradoxe Situation auch auf den ‚ernsthaften‘ Künstler ausweiten. Diabelli nämlich vollführt noch eine letzte Volte – die nämlich, mit der er sich aus dem Leben wegzaubert.

Es ist ja nicht nur bei Burger, aber gerade bei ihm, ein stehender Topos des Feuilletons, seine Werke unter dem Blickwinkel seiner Depressionen und seines Selbstmords zu interpretieren und so auch bei Diabelli diesen Selbstmord vorweg genommen zu sehen. Da mögen kausale Zusammenhänge bestehen, aber kein Mensch, auch Burger nicht, schreibt sein Leben lang über seinen Selbstmord; und kein Stück Literatur wird dadurch besser, dass sich sein Urheber eines Nachts erhängt oder erschossen hat. Tatsächlich ist Diabelli auch der typische Künstlerroman, und hat durchaus seine literarischen Väter und Vorväter vorzuweisen. Da ist zum Beispiel jener andere Variété-Künstler, der auch seine Kunst stets perfektioniert und sich durch die völlige Hingabe an seine Kunst ins Nichts transferiert: Kafkas Hungerkünstler. Diabelli wie dem Hungerkünstler ist gemeinsam, dass sie ihre Kunst über alles stellen. Diabelli hat aber noch einen andern wichtigen Vater: Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus. Wittgenstein wurde zur Zeit der Abfassung von Diabelli gerade von der deutschen Literatur und den Literaturwissenschaftern entdeckt. Diabelli ist so auch die Exemplifikation des berühmten Schluss-Satzes des Tractatus:

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.

Wittgenstein meinte damit die Voraussetzungen der Philosophie. Auf die Literatur angewendet, als Verbot über die Möglichkeit dieser Kunstausübung zu sprechen, ist dieser Satz für den Literaten noch tödlicher als er es für den Philosophen ist. Selbst wenn hier nicht der physische Tod gemeint ist, den Tod als Künstler erleidet der Künstler allemal. (Die Situation bleibt paradox!) Und den Ausbruch aus der Provinz auch in den physischen Tod hat Burger in seinen Werken ja des öftern exerziert.

Bei Zauberkünstlern existiert der (Ehren-)Kodex, dass man seine Tricks dem Publikum nie verrät, allenfalls nur so tut, als täte man es. Selbst unter Kollegen wird man den einen, den finalen Trick nicht weitergeben. Also transferiert sich auch Diabelli mit der letzten Volte – ein zaubertechnischer Fachausdruck! – ins Nichts. (Darf ich daran erinnern, dass weder Kafka noch Wittgenstein Selbstmord begangen haben?)

Welchen Trick, welchen Schwindel hat uns Burger demnach vorgesetzt? Man erlaube mir, hier einfach wie ein Kind inne zu halten und der Show Diabellis mit offenem Mund und staunend zuzusehen.

Parerga

Im Buchtitel nicht aufgeführte Zusätze zu den Erzählungen dieses Bandes. Burger war nämlich – unter dem Künstlernamen ‚Diabelli‘! – ein offenbar recht begabter Amateur-Zauberkünstler. Als solcher berichtet er hier von Fernseh-Aufnahmen mit ihm zum Thema ‚Zauberkünstler‘ und von einem Besuch bei einem Kongress der professionellen Zauberer. Beides wird für Burger zum Anlass, sich über das Verhältnis jedweder Kunstform zu Leben und Tod auszulassen.

Die letzten beiden Teile von Band 2 also ein absolutes ‚Must‘ für jeden, der die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts kennen will – die ersten beiden Teile hingegen können überschlagen werden.

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