Ein Beitrag von User BigBen im Klassikerforum hat mich daran erinnert, dass ich seit der Lektüre von Derek Brewers Anthologie Medieval Comic Tales etwas vom Stricker (wieder) lesen wollte. Diesmal habe ich den Vorsatz nicht mehr aufgeschoben. Der Pfaffe Amis ist wohl des Strickers heute bekanntestes Werk – ein rätselhaftes Werk allerdings.
Auf den ersten Blick zeigt sich ein locker verknüpfter Roman voneinander praktisch unabhängiger Episoden: Ein subalterner Geistlicher (eben: ein Pfaffe) aus England macht sich auf, die grosse Welt zu verarschen. Amis‘ Schelmenstücke sind denn auch teilweise in den Klassiker der deutschsprachigen Schelmenliteratur eingegangen: Hermann Bote hat die eine oder andere Episode für seinen Till Eulenspiegel adaptiert. Aber Der Pfaffe Amis steckt im Gegensatz zum Till voller Rätsel.
Und dazu möchte ich die Rätsel um den Verfasser noch gar nicht zählen. Obwohl er einer der produktivsten mittelhochdeutschen Autoren der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gewesen ist, wissen wir praktisch nichts über ihn. Was die Wissenschaft zu wissen glaubt, ist aus seinem Werk erschlossen worden. Die Sprache deutet auf einen Ostfranken, die eine oder andere Anspielung auf gute Kenntnisse österreichischer (Wiener) Interna. Über juristische und theologische Kenntnisse scheint er ebenfalls verfügt zu haben. Aber schon beim Namen wissen wir nicht, ob es sich um einen ‚echten‘ Familiennamen gehandelt hat, ob er ein Hinweis auf eine frühere Tätigkeit des Autors als Verfertiger von Seilen ist, oder ein sprechender Übername, der das Erstellen literarischer Texte mit dem Erstellen von Stoffgewebe vergleicht (‚Text‘ in seinem lateinischen Ursprung war ein Gewebe!). So bleibt auch die soziale Stellung des Autors im Dunkeln.
Selbst der Text des Pfaffen Amis wirft Fragen auf. So finden wir jede Menge logische Widersprüche, wenn zum Beispiel der Maurer in einer der Konstantinopel-Episoden kahlköpfig ist, ihm aber im Laufe der Geschichte die Haare ausgerissen werden. Eine Anpassung an unterschiedliche Erwartungshaltungen unterschiedlichen Publikums? Ein Versehen? Oder will der Autor damit einen bestimmten Sinn verknüpft wissen? Das Till-Eulenspiegel-Schelmenhafte, auf das der Herausgeber meiner Ausgabe1), Michael Schilling, in seinem Nachwort so grossen Wert legt, ist meiner Meinung nach ebenfalls zweifelhaft. In der ersten Episode finden wir den Pfaffen, der mit seinem Brotherrn, dem Bischof, in Streit gerät, weil er mehr und bessere Gelage veranstaltet als sein unmittelbarer Vorgesetzter. Till Eulenspiegel war und blieb der Bauernsohn, der den Grossen und Mächtigen hin und wieder einen Streich spielt – hier ist das soziale Gefüge klar. Amis aber hat genügend Ressourcen, um sich eigenes Gesinde halten zu können, oder in der Verkleidung eines reichen Kaufmanns nach Konstantinopel zu reisen. Er schickt das auf seinen Touren erbeutete Geld nach Hause, aber ich sehe nicht (wie Herausgeber Schilling), dass das geschieht, damit er daheim karitativ tätig sein kann, sondern weil er ganz einfach sein grosses Haus weiterhin aufrecht erhalten will. Amis ist mehr Hochstapler denn Schelm.
Schlussendlich aber bleibt alles rätselhaft.
1) Der Stricker: Der Pfaffe Amis. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach der Heidelberger Handschrift cpg 341 herausgegeben, übersetzt und kommentiert vonMichael Schilling. Stuttgart: Reclam, 1994. (= Reclams Universalbibliothek 658)
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