Derek Brewer (Hrsg.): Medieval Comic Tales [Schnurren und Schwänke des Mittelalters]

(Der deutsche Titel stammt von mir, denn m.W. wurde diese Sammlung mittalterlicher humoristischer Kurzprosa nie ins Deutsche übersetzt.)

Derek S. Brewer war bis zu seinem Tod im Jahre 2008 Fellow an der University of Cambridge (GB) und einer der führenden Fachleute, was die Literatur des (englischen) Mittelalters angeht. Sein ganz grosses Spezialthema war Chaucer. Die hier vorliegende Sammlung von mittelalterlicher humoristischer Kurzprosa erschien zum ersten Mal 1973. In Anbetracht des exotischen Themas war das Buch ein grosser Erfolg; es wurde in erweiterter Form 1996 zum zweiten Mal veröffentlicht. Die mir vorliegende Ausgabe der Folio Society stützt sich auf diese zweite Ausgabe. Sie wurde von Becca Thorne mit Holzschnitten im mittelalterlichen Stil illustriert.

Brewer hat seiner Auswahl eine längere Einführung vorangestellt, die nicht das Uninteressanteste an diesem Buch ist. Er legt grosses Gewicht auf die Tatsache, dass die Ansicht von Humor im Mittelalter eine andere war als heute. Die Political Correctness, die mittlerweile oft allzu penetrant wirkt, existierte im Mittelalter gar nicht. Als komisch wurde empfunden, was von der Norm abwich. Und die Norm war der gesunde, junge, weisse Mann – u.U. gar von Adel. Will sagen: Mittelalterlicher Humor richtet sich gegen die Ausländer und die Frauen, gegen die Alten, gegen die Kranken und Invaliden. Gegen den Klerus auch, denn auch dessen Lebensweise wurde als abweichend empfunden. Als Ausländer galten dann z.B. dem Engländer schon die Waliser …

Diese mittelalterliche Auffassung von Humor galt auch noch zu Beginn der Neuzeit; Don Quijote wurde – gemäss Brewer – von Cervantes und seinen Zeitgenossen durchaus als komisch empfunden; erst die Romantik machte aus dem Ritter von der traurigen Gestalt (sprich: aus einem komischen alten Invaliden) einen traurigen Ritter von Gestalt (sprich: einen melancholischen Philosophen). Dieser Wandel in der Auffassung dessen, was als komisch empfunden wird, mag wohl auch an der durchzogenen Rezeption schuld sein, die Grimmelshausens Simplicissimus oder Rabelais‘ Gargantua und Pantagruel heute erfahren, da wir vieles von deren ursprünglichen Komik mittlerweile nur als unnötige Brutalität oder bestenfalls als langweilig empfinden. (Persönlich mag ich ja vor allem Rabelais sehr …)

Andererseits ist die Methode, nur komische Erzählungen in einem Buch zu versammeln, nicht mittelalterlich. (Themenorientierte Sammlungen sind eine Idee der Gelehrsamkeit der Renaissance.) Im Mittelalter standen komische und ernste Texte – Novelle im Italienischen, Fabliaux im Französischen geheissen – in Sammlungen immer beisammen, was wir ja in den Canterbury Tales oder im Decamerone noch heute nachvollziehen können. Im Übrigen sind die komischen Mittel, die dem mittelalterlichen Autor zur Verfügung stehen, relativ beschränkt. Mittelalterliche Komik spielt meist entweder ins Sexuelle oder ins Skatologische. Weiber betrügen ihre Männer und werden von diesen betrogen. Eulenspiegel schliesst seine Schwänke damit ab, dass er irgendwo hinsch…t, wo normalerweise nicht hingesch…en wird.

Die Texte selber hat Brewer nach Ländern sortiert. Diese Sortierung beruht auf den Sammlungen, denen der Herausgeber die Texte jeweils entnommen hat. Brewer hält selber fest, dass dies oft zufällige Fundorte sind. Die Texte sind schon im Mittelalter – sei es mündlich oder sei es schriftlich – „gewandert“, d.i. herumgereicht worden, und Brewer selber bringt Beispiele, wie dieselbe Geschichte in verschiedenen Sammlungen verschiedener geografischer Herkunft auftaucht. (Brewer nennt in seiner Einleitung sogar Beipiele von Geschichten, die in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts noch in mündlicher Form weitergereicht werden und so in der Folklore von Georgia (USA) oder im ehemaligen Jugoslawien aufscheinen.) Es sind – in dieser Reihenfolge – französische, spanische, englische, italienische, deutsche, holländische und lateinische Quellen, aus denen Brewer seine Texte nimmt. Dabei verzichtet er bewusst auf die zwei bekanntesten und am leichtesten zugänglichen Quellen – die Canterbury Tales und das Decamerone. Natürlich taucht die eine oder andere Erzählung aus Brewers Sammlung in abgewandelter Form auch bei Chaucer oder Boccaccio auf. Dafür bringt der Engländer ein paar Erzählungen von Till Eulenspiegel (Ein kurtzweilig Lesen von Dyl Ulenspiegel, geboren uß dem Land zu Brunßwick, wie er sein leben volbracht hat. Braunschweig, ca. 1510), was zumindest für den deutschsprachigen Leser wohl ebenfalls nicht nötig wäre. Daneben ist dem literaturbeflissenen Deutschen vielleicht noch Der Stricker ein Begriff als Autor – mir jedenfalls waren die andern angegebenen Quellen nicht bekannt.

Interessant auch die Verzweigungen, die so eine Überlieferung annehmen kann. Dass zumindest die frühen Komödien Shakespeares (auch) aus mittelalterlichen Quellen ziehen, hat mich weniger überrascht als die Tatsache, dass die mittelniederländische Erzählung Van .iij. ghesellen die den bake stalen (übersetzt als Concerning Three Companions who Stole a Side of Bacon) sich auch beim Alemannen  Johann Peter Hebel finden lässt – unter dem Titel Wie der Zundelfrieder und sein Bruder dem roten Dieter abermal einen Streich spielen. Es ist, nebenbei gesagt, nicht die einzige Erzählung, die Hebel der ins Mittalter zurückreichenden Schwanktradition entnommen hat. Selbst in der vorliegenden Sammlung ist zumindest noch eine zweite später auch von Hebel verwendete zu finden. Es ist aber auch für die anders gewordene Auffassung von Humor bezeichnend, dass der Geistliche des 19. Jahrhunderts die Brutalität der mittelalterlichen Version stark gemildert hat. Wird im Mittelalter zwei Gesellen noch je ein Arm abgehauen, so hat Hebels Version das Ganze zu einem unblutigen Wettstreit von drei schlauen Kleinkriminellen umgewandelt. (Von Hebel weiss Brewer übrigens nichts.)

Inhaltlich wie auch (in meiner Ausgabe) gestalterisch ein kleines Schmuckstück, das zumindest meinen Blick auf das Mittelalter ein bisschen verändert hat.

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