Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel

Holzschnitt, schwarz auf gelbem Grund: Till Eulenspiegel hält seine zwei Embleme in die Luft: links die Eule, rechts den Spiegel. In der Mitte ist noch sein Kopf. Ausschnitt aus dem Buchcover, das den Originalholzschnitt der frühesten bekannten Ausgabe von 1515 verwendet.

Den Till Eulenspiegel kennen wohl alle. Die Frage ist allerdings, welchen Till wir kennen. Weshalb die Frage überhaupt auftaucht, klärt ein Blick auf die Überlieferungsgeschichte des Till. Fangen wir mit meiner Edition an. Vor mir liegt ein Büchlein aus der Reclam Universalbibliothek, die Nummer 1687 von 1975. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Lindow. Diese Ausgabe wurde erstellt nach dem Druck von 1515 und enthält auch die darin enthaltenen 87 Holzschnitte. Der Druck von 1515 stellt zugleich das erste Auftreten Tills in der Literatur dar – das erste zumindest, das wir heute noch greifen können. Ziemlich sicher hat schon vor 1515 ein Druck existiert, zumindest aber eine Handschrift, denn unser Text von 1515 ist nicht nur unsorgfältig, ja schludrig, gedruckt, sondern offenbar ebenso unsorgfältig, ja schludrig, aus den Niederdeutschen übersetzt worden. Das lässt sich daraus schließen, dass wir viele niederdeutsche Wörter und Redewendungen im Text finden, die nicht oder falsch übersetzt worden sind. Außerdem zeigen die Geschichten, die in und um Braunschweig spielen, dass der ursprüngliche Autor offenbar über gute geografische Kenntnisse dieser Stadt und der umliegenden Dörfer verfügte.

Im Übrigen existiert von der Vorlage von 1515 noch gerade ein einziges Exemplar, was sich daraus erklärt, dass solche Bücher Verbrauchsliteratur darstellten. (Und gleichzeitig erklärt, warum sich frühere Drucke gar nicht mehr auffinden lassen: Solche Bücher wurden rasch zerlesen und dann fortgeworfen.) Zielpublikum der frühen Neuzeit waren noch weniger die Kinder, viel mehr die bürgerlichen Frauen, die hin und wieder etwas Zeit zur Lektüre aufbringen konnten. Ernsthafte Leser (und ich verwende hier absichtlich die männliche Form!) lasen so etwas nicht. Ungefähr 200 Jahre später, Anfang und Mitte des 18. Jahrhunderts, hatte sich die Lage bereits geändert. Die Frauen lasen nun die großen Liebes-Schmonzetten französischer Provenienz und keine derben Schwänke mehr. Noch immer aber war der Eulenspiegel Verbrauchsliteratur, nun allerdings waren es die Kinder, die man mit den Bearbeitungen ansprach. Noch Goethe wird sich in seiner Autobiografie daran erinnern, wie er in Frankfurt auf der Gasse den Eulenspiegel für wenig Geld kaufen konnte, ebenso wie Die Schöne Melusine, Die schöne Magellone und andere sagenhafte Gestalten. Die Bücher waren von allerschlechtester Qualität, kosteten dafür nur wenig, und wenn man sie zerlesen hatte, konnte man sich rasch und billig ein neues Exemplar besorgen.

Mit der sich (abermals) bildenden deutschen Hochliteratur, dem damit verbundenen Literaturbetrieb mit Literaturkritikern und -wissenschaftlern (auch hier: meist Männer) sank Till Eulenspiegel unter den Punkt, an dem sich Erwachsene mit ihm beschäftigten. Erst Moritz Arndt nahm ihn wieder ernst und rückte ihn wieder in die Gesichtssphäre der Erwachsenen. Aber er blieb doch mehr oder weniger Kinderliteratur, auch wenn Charles de Coster ihn schon 1867 zum Freiheitshelden machte; und noch Erich Kästner hat in den 1950ern einen Eulenspiegel für Kinder geschrieben. (Bei dem, nota bene, die Zeichnungen von Walter Trier den Eulenspiegel als einen Mann im Narrengewand darstellten – was der historischen Wirklichkeit nicht entspricht: Die Holzschnitte der Ausgabe von 1515 zeigen im Gegenteil einen durchaus à la mode gekleideten hübschen jungen Mann.) Und wenn sich heute die Literaturwissenschaft für den Eulenspiegel interessiert, ist es vor allem aus editionsgeschichtlicher bzw. textkritischer Sicht, wohl auch im Bemühen, den ursprünglichen Verfasser des Textes zu eruieren. Und am liebsten hätte man natürlich, wenn der bekannte niederdeutsche Humanist Hermann Bote als Autor zu identifizieren wäre, weil damit sozusagen eine ordentliche Vaterschaft dieses seltsamen Narren festzustellen wäre und eine seriöse Beschäftigung mit ihm legitimieren könnte; aber das ist bis heute nicht gelungen. Meiner Meinung nach spielt das allerdings keine Rolle mehr.

Eine andere Frage, die meines Wissens ebenfalls nicht definitiv geklärt ist, ist die nach der Historizität des Till. Hat es ihn wirklich gegeben? Der Herausgeber meiner Ausgabe ist davon fest überzeugt, und es lassen sich in alten Chroniken tatsächlich Spuren finden, die auf einen Tilo dictus Ulenspegel deuten, der im Großraum Braunschweig zur Welt gekommen und 1350 in Mölln gestorben ist. Die Frage ist aber wohl heute so wenig mehr zu beantworten wie die nach dem ursprünglichen Verfasser seiner Geschichten.

Es kann aber festgehalten werden, dass die Streiche, die Till in der Ausgabe von 1515 spielt, tatsächlich zurück ins Mittelalter verweisen. Sowohl der aus heutiger Sicht äußerst derbe Humor – meist Fäkalhumor; (verbale) sexuelle Anspielungen gibt es kaum, nackte Frauen oder Sex schon gar nicht – wie die verschiedenen Stände, vor allem die Meister der verschiedenen Handwerke, bei denen Till Eulenspiegel unterkommt, weisen darauf hin. In einer Beziehung allerdings ist Till sehr modern: Sein Humor beruht in vielen Fällen darauf, dass er sein Gegenüber beim Wort nimmt. Wo der andere ein Sprachbild verwendet, ohne sich dessen bewusst zu sein, überführt Till dieses Bild zurück in die Realität. Wie wenig die Leute damals dieser Technik gegenüber zu setzen hatten, zeigen die Fälle, in denen das Gegenüber sogar einsieht und Till gegenüber zugibt, dass er sie nur ganz wörtlich verstanden hat und dass sie sich in Acht nehmen müssen, welche Redewendungen sie verwenden – nur um drei Sätze später Till wieder einen Auftrag zu geben mit einem Satz, der ein Bild benutzt, das Till dann wieder wörtlich umsetzen wird.

Was aber bleibt, wenn man die Geschichten als solche betrachtet, ist das Rätsel „Till Eulenspiegel“. Nicht nur, dass man sich wundern muss, wie dieser Mann, wenn es ihn tatsächlich gegeben hat, überleben konnte. (Immerhin gibt ein ein paar Geschichten, die im Winter spielen und Till zeigen, der froh sein kann, Unterkunft und Arbeit bei einem Meister zu finden – nur um ihm kurze Zeit später einen Streich zu spielen, der macht, dass er sich wieder auf Wanderschaft begeben muss. Dieser Till hat ausgeprägte autodestruktive Züge an sich.) Auch seine Kenntnisse in vielen Handwerken sind bewundernswert, die machen, dass er zumindest für einige Zeit Schneidermeister ebenso mit seiner Arbeit bezirzen kann wie Kürschnermeister oder Bierbrauer. Aber das ganz große Rätsel ist, weshalb Till überhaupt dazu kommt, seine Streiche zu spielen. Er ist ein Anarchist, der kaum Herrschaft akzeptiert – aber seine Anarchie, seine Revolte, bleiben immer privat. Manchmal kann er davon leben, aber ebenso oft auch nicht – er ist also auch kein professioneller Narr. Selbst als Kunstfigur bleibt er also ein Rätsel.

(Natürlich, um bei der Kunstfigur zu bleiben, finden wir schon in der Ausgabe von 1515 Wandernovellen – Schwänke, die zum Beispiel schon im Pfaffen Amis Des Strickers zu finden sind oder die (bzw. deren Grundlagen zumindest) auch in der indischen Dichtung des Pantschatantra figurieren. Aber die meisten sind Originale.)

Fazit: Man wüsste gern mehr, wird es aber wohl nie erfahren.

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