Michael Henchard, ein junger wandernder Agrararbeiter (einen hay-trusser, wörtlich übersetzt einen „Heubündler“, nennt ihn Hardy), ist mit seiner Frau Susan und seiner kleinen Tochter Elizabeth-Jane in Südengland unterwegs. Im Moment, wo wir ihn kennen lernen, ist er gerade arbeitslos – was in Anbetracht der fortgeschrittenen Jahreszeit (wir haben Spätsommer) nicht wundert. An einer kleinen, regionalen Landwirtschaftsmesse in der Nähe von Casterbridge (auch dieser Roman spielt in Thomas Hardys fiktiver Grafschaft Wessex), wo er mit seiner Familie etwas essen will, bevor er ein Lager für die Nacht sucht, gerät er in ein Zelt, in dem neben der offiziell ausgeschenkten Mahlzeit, einem Getreidebrei, auch noch illegaler Rum ausgeschenkt wird. Es kommt wie es kommen muss: Henchard trinkt zu viel. Es kommt, wie es allem Anschein nach schon des öfteren gekommen ist: Im Suff beginnt er Frau und Kind an den Meistbietenden zu versteigern. Bei den bisherigen Gelegenheiten hat man ihn offenbar für das genommen, was er war: einen betrunkenen und frustrierten Wanderarbeiter, den man in seinem Zustand am besten in Ruhe liess. Diesmal aber kommt es anders: Es findet sich einer, der die Auktion leitet, und es findet sich ein Käufer. Der Auszug des Fremden mit Susan und dem kleinen Mädchen beendet das Vorspiel.
Der eigentliche Roman beginnt runde 20 Jahre später. Susan und ihre Tochter Elizabeth-Jane kommen zurück in die Gegend von Casterbridge. Der Mann, der Susan damals gekauft hatte, war ein Matrose und ist unterdessen auf der See verschollen, weshalb sie sich moralisch verpflichtet fühlt, zu ihrem ersten Mann zurück zu kehren. Sie hat wenig Mühe, ihn zu finden, ist er doch unterdessen einer der Grossen in Casterbridge geworden, und genau in diesem Jahr sogar Bürgermeister des Städtchens. Sie sieht einen reich gewordenen, reifen und gefestigten Mann. Was sie nicht weiss, weil das den weiteren Inhalt des Romans darstellt: Sie sieht ihn zugleich auf dem Höhepunkt seines Ansehens. The Mayor of Casterbridge beschreibt auf den weiteren rund 250 Seiten den zuerst langsamen, dann immer schneller werdenden Niedergang des Michael Henchard.
1886 erschienen, ist The Mayor of Casterbridge weniger eine Anklageschrift gegen die viktorianischen Vorstellungen von Moral und von Ehe – die Personen dieses Romans haben ihre eigenen Vorstellungen davon, ohne deswegen Gewissensbisse zu haben – weniger eine Anklageschrift also als der 9 Jahre später erscheinende Jude, sondern mehr eine Zeichnung eines einzelnen, in seiner Art aussergewöhnlichen Mannes, wie es auch der Untertitel suggeriert: The Life and Death of a Man of Character. Wenn man deshalb weniger allgemeine, gesellschaftliche Kritik findet, so findet man dafür mehr ‚Action‘. (Man hat Hardy sogar vorgeworfen, allzu viel davon in den Mayor of Casterbridge verpackt zu haben, was ich nicht nachvollziehen kann.) So kommt es, dass man, während man den Geschehnissen von Jude relativ gelassen beiwohnen kann, den Erlebnissen der Protagonisten in diesem Roman mit mehr persönlich-emotionaler Beteiligung folgt.
Was man letzten Endes mehr schätzt, ist wohl dem jeweils eigenen Geschmack anheim gegeben. Beides sind ganz grosse Romane der Weltliteratur. Ich für meinen Teil fand Jude the Obscure in seiner bitteren und doch fast leidenschaftslos vorgetragenen Darstellung des Leidens, das der Mensch (‚die Gesellschaft‘) dem Menschen verursacht, noch einen Tick besser, möchte aber auch diesen Roman hier jedem Leser, jeder Leserin warm ans Herz legen. (Das war’s dann auch mit meiner Weihnachtspredigt.)