Fragmente einer Autobiografie: Schon zur Zeit der Niederschrift von Der Untergang des Abendlandes verfasste Oswald Spengler immer wieder kürzere oder längere Notizen, die er mit der Überschrift Autobiographie oder eben Eis heauton (was ungefähr so viel heisst wie: an mich selber) versah. Als ob, wie es Merlio in seinem Nachwort zu diesem Buch formuliert, Spengler von Anfang an der Meinung gewesen wäre, Der Untergang des Abendlandes könne nur ganz verständlich sein, wenn man die Biografie des Autors kenne. Aber auch, als ob sich Spengler hier irgendwie seiner selbst versichern müsse. Diese Notizen hat Spengler allerdings nie ausgearbeitet, geschweige denn zu Lebzeiten veröffentlicht.
Man mag darüber streiten, ob es sich lohne, von einem Autor wie Oswald Spengler jedes Fitzelchen an Text aufzubewahren und der Nachwelt zu überliefern. Wenn man es aber schon tut, dann muss man seiner Schwester Hilde Kornhardt ein Kränzchen winden, die diese Notizen aus dem übrigen Wust an Papier herauszog und getreulich mit der Schreibmaschine abtippte. Ihr und ihrer Tochter, Spenglers Nichte, Hildegard Kornhardt, die diese Abschrift nochmals handschriftlich nach dem Originaltext korrigierte. Das Kränzchen gebührt nicht dem Abschreiben als solchem, sondern dem Umstand, dass diese Schwester – im Gegensatz zu jener andern, berühmteren und berüchtigteren Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche – nicht versuchte, des Bruders Selbstbild bzw. Bild schön zu färben. Und das 1940, als der Druck, Spengler „anzupassen“ riesig gewesen sein muss. (Spengler selber verachtete Förster-Nietzsche für ihre Vergötterung des Bruders, trat 1935 auch aus dem Vorstand des Nietzsche-Archivs aus, weil er nicht mit der Art und Weise einverstanden war, wie Elisabeth ihren toten Bruder für die Einvernahme durch den Nationalsozialismus zubereitete. Spengler verachtete auch die Nationalsozialisten. Adolf Hitler, den er persönlich kennen gelernt hatte, war ihm – wie jenen beiden andern rechtskonservativen Ultranationalen, den Brüdern Jünger – zu proletenhaft.)
Das Bild, das Oswald Spengler in seinen Notizen (um auf diese zurück zu kommen) von sich und seiner Familie entwirft, ist wenig schmeichelhaft: Sein Vater war schon über die Blüte der Jugend hinaus, als er heiratete. Postbeamter, der er war, konnte er sein Beamtentum offenbar auch in der Freizeit, in der Familie, nicht abschütteln. Die Mutter war bedeutend jünger, musisch veranlagt und mit ihrer Rolle als (Haus-)Frau und Mutter völlig überfordert. Als Kind litt Oswald unter Panikattacken.
Auch sich selber verschont er nicht: Er zeichnet das Bild eines bindungsunfähigen Einzelgängers, der die Frauen zum Teil fürchtet, zum Teil hasst. Unterschwellige masochistische Phantasien schleichen sich ein. Wenn man es nett formulieren wollte, könnte man sagen, der Mann, der mit Der Untergang des Abendlandes das Kultbuch einer ganzen Weltanschauung und Geschichtsphilosophie geschrieben hatte, war in seiner eigenen Entwicklung in einem ziemlich frühen Stand der Pubertät stecken geblieben. Man soll nicht vom Menschen auf sein Werk schliesen oder umgekehrt, aber ich für meinen Teil werde Spengler in Zukunft wohl nicht mehr lesen können oder nennen hören, ohne an diesen von Ängsten und Zweifeln geplagten Selbstrichter denken zu müssen. Mit Mitleid denken zu müssen, aber auch mit Verachtung.
Daneben sind diese Notizen tatsächlich ‚Hinweise an sich selber‘. Vor allem Namen werden oft einfach nur genannt, ohne dass Spengler vertiefen würde, worum es ihm bei der Nennung dieses Namens genau geht. Nietzsche kommt natürlich häufig vor. Ebenso Wagner – Spenglers Verhältnis zu diesem Komponisten scheint ähnlich ambivalent gewesen zu sein, wie das seines grossen Vorbilds Nietzsche. Dass der Name Haeckel häufig fällt, ist wohl auch der Zeit geschuldet, die die von Ernst Haeckel herausgebildete Form der Abstammungslehre für ihre nationalsozialistischen Zwecke umformte (woran Haeckel selbst nicht unschuldig war, auch wenn er zu der Zeit schon lange tot war). Im Laufe der Jahre wird Haeckel allerdings abgelöst durch den Namen Goethe, dessen Bildungslehre der Urpflanze Spengler besser zu behagen schien (um hier gleich ein Goethe’sches Wort zu verwenden). Aber ohne Kenntnis weiterer Schriften von Spengler ist eine genaue Einschätzung seiner Haltung zu den genannten Denkern nur aus den autobiografischen Notizen aus dem Nachlass nicht möglich. Das ist zugleich eine leise Kritik an den Herausgebern des Textes in meiner Ausgabe: Es wären hier mehr Zusatzinformationen nötig gewesen.
Oswald Spengler. Ich beneide jeden, der lebt. Die Aufzeichnungen »Eis heauton« aus dem Nachlaß. Mit einem Nachwort von Gilbert Merlio. Düsseldorf: Lilienfeld, 2007
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