Henry David Thoreau: Leben ohne Grundsätze

Bei diesem Text handelt es sich um die finale, schriftlich fixierte Form eines Vortrags, den Thoreau zu diversen Malen, in Concord und anderswo, gehalten hat. Der Autor konnte ihn nicht mehr selber veröffentlichen. Der Tod an Schwindsucht kam ihm zuvor, und der Text wurde aus seinem Nachlass von seiner Schwester zum Druck gegeben – ebenso wie Wild Fruits, das Thoreau auch zu diesem Zweck noch abgeschlossen hatte, so gut es eben ging.1)

David Henry Thoreau war zu seiner Zeit ein bekannter und gesuchter Redner. Die Leute rissen sich nachgerade darum, einen seiner Vorträge hören zu können. Leben ohne Grundsätze war dabei der Vortrag, den Thoreau wohl am meisten gehalten hat und in dem er seine politischen Zwecke und Ziele skizzierte. Die Herkunft aus einem Vortrag merkt man dem Text auch in der schriftlichen Version an. Vieles wird nur angedeutet, manches auch (des öfteren!) wiederholt. Das macht es schwierig, dem Text zu folgen. Es braucht in jedem Fall Kenntnis der Geschichte der USA und auch Kenntnis anderer Texte von Thoreau und seinem Freundeskreis.

Thoreau predigt nicht ein Leben gänzlich ohne Grundsätze. Aber er empfiehlt seinem Publikum, staatliche Vorschriften nicht einfach hinzunehmen. Insbesondere, was die Haltung des Staates gegenüber der Sklaverei betrifft, ist Thoreaus Position eindeutig: Er ist Abolitionist, d.h., Befürworter eines völligen Verbots der Sklaverei. In dieser seiner Position ist er dann auch radikal, und gehört zu den wenigen seines Freundeskreises, die John Brown auch noch verteidigen, nachdem dieser seinerseits radikal und gewalttätig geworden war2). (Es war vielleicht einer der Gründe für den Umstand, dass Thoreaus Freundschaft mit Ralph Waldo Emerson sich abkühlte, dass letzterer von Brown abrückte, als er gefasst und wegen Hochverrats hingerichtet wurde.) Wegen der Tatsache, dass die Sklaverei toleriert und nicht dagegen angegangen wurde, greift Thoreau die USA im Allgemeinen und den Bundesstaat Virginia im Besonderen im Leben ohne Grundsätze immer wieder heftig an.

Auch ansonsten soll der Text wohl so etwas wie eine politische Philosophie, die politische Philosophie des Henry David Thoreau, enthalten. Es verlangt aber viel Geduld, sie aus dem ziemlich unstrukturierten Ganzen heraus zu schälen – eine Geduld, die ich, offen gesagt, nicht hatte. Zu vieles bleibt angedeutet, war vielleicht im 19. Jahrhundert dem US-amerikanischen Zeitgenossen klar, aber ist es nicht mehr für den Mitteleuropäer des 21. Jahrhunderts. Ich schätze den die Natur beschreibenden Thoreau nach wie vor sehr; der politische Autor ist mir zu wirr.


1) Die Rolle der dem literarischen Werk ihres Bruders völlig ergebenen Schwester (die unter Umständen sogar zur seiner Nachlassverwalterin wird) ist gar nicht so selten. Aus dem Stegreif kommen mir in den Sinn: Nietzsches Schwester (natürlich!), die Schwester Oswald Spenglers; aber auch Betsy Meyer, die Schwester des Schweizer Autors Conrad Ferdinand, die erst durch dessen spät (mit 50 Jahren) geschlossene Ehe aus der Rolle der Vertrauten und potenziellen Nachlassverwalterin verdrängt wurde.

2) Zu John Brown (der wirklich so hiess!) s. den Artikel in Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/John_Brown_(Abolitionist)


Henry David Thoreau: Leben ohne Grundsätze. In der Übersetzung von Peter Kleinhempel herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Frank Schäfer. Innsbruck: Limbus, 2017

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