Michael Nehls: Alzheimer ist heilbar

Schon der reißerische Titel lässt nichts Gutes vermuten: Und tatsächlich, das ist ein übles Machwerk, gespickt mit Halbwahrheiten, trivialen Erkenntnissen (die als etwas Ungeheures gepriesen, deren Verbreitung nur durch eine an den Zahlen orientierte Pharmaindustrie verhindert werden) und esoterischen Einsprengseln (asiatische Meditationstechniken und psychoanalytischer Unfug werden in Permanenz gepriesen, überhaupt hat es der Autor mit den „erfahrenen Therapeuten“: Solche sind seiner Meinung nach auch zu konsultieren, wenn man in die Sonne geht). Und wie so oft haben wir es hier mit jemanden zu tun, der sein Damaskus-Erlebnis hinter sich und die Seiten gewechselt hat: Bekanntlich sind es die Konvertiten, die am härtesten mit ihren ehemaligen Glaubensbrüdern ins Gericht gehen.

Der rhetorische Trick hat Tradition – und in den unterschiedlichsten Bereichen: Rechts- oder Linkspopulisten bedienen sich ebenso wie Verschwörungstheoretiker unterschiedlichster Couleur an dem System, tatsächliche Missstände aufzuzeigen, mit Halbwahrheiten zu operieren, um dann ihre eigene, meist völlig abstruse Lösung zu präsentieren, die mit dem ursprünglichen Problem nichts oder nur sehr wenig zu tun hat. Nehls macht etwa unseren (westlichen) Lebensstil für das Phänomen Alzheimer verantwortlich (Zivilisationskritik geht immer) – und wer wollte ihm widersprechen, wenn er unsere Ernährungweise (dies umfasst den größten Teil des Buches)* kritisiert, mehr Zwischenmenschlichkeit fordert oder ausreichend Schlaf und stressfreies Leben als konstituierend für ein zufriedenes Leben erachtet. Selbstredend sind auch Alkohol, Zigaretten und Drogen von dieser Kritik betroffen, die industrielle Landwirtschaft, unsere giftgetränkten Lebensmittel, der Bewegungsmangel, Alterseinsamkeit, Medienkonsum ohne geistige Herausforderungen etc. etc. Und dieser Cocktail verursacht nach Meinung des Autors die „Kulturkrankheit“ Alzheimer (da dadurch am Hippocampus keine neuen Nervenzellen mehr gebildet werden könnten), die es so früher nicht gegeben hätte – und hier kann man überleiten zu seinem dubiosen Umgang mit Statistiken und Studien: Denn er meint feststellen zu können, dass es nur einen scheinbaren Anstieg der Lebenserwartung gegeben habe, die Zahl werde durch die hohe Kindersterblichkeit verfälscht. Auch dies wieder eine typische Halbwahrheit ganz im Sinne des Schreibers: Dass es aber bereinigte Altersstatistiken gibt, die diese Kindersterblichkeit herausrechnen und die nachweislich trotzdem eine sehr starke Zunahme der Lebensalter zeigen, verschweigt er.**

Das zieht sich durch das ganze Buch: Studien werden zitiert, die in vollkommen anderen Zusammenhängen erstellt wurden und die von ihm behaupteten Aussagen keineswegs stützen (aber auch nicht das Gegenteil beweisen: Sie sind schlicht irrelevant für seine Behauptungen), Korrelationen mit Kausalzusammenhängen verwechselt (so entblödet er sich etwa nicht festzustellen, dass die guten Pisa-Ergebnisse von Südkorea, Japan und Singapur durch das „beste Verhältnis von Omega3- zu Omega6-Fettsäuren in der Muttermilch“ (aufgrund der Ernährung) verursacht würden, ohne auch nur im entferntesten auf die Idee zu kommen, dass hier andere Faktoren am Werk sein könnten, Faktoren, die im übrigen es fragwürdig erscheinen lassen, ob diese guten Ergebnisse denn wirklich etwas so Erstrebenswertes seien) und ständig wird auf die Bredesen-Studie verwiesen, in der der namensgebende Doktor angeblich von 10 Alzheimer-Patienten 8 geheilt habe. Eine Studie, die noch nicht einmal die Grundvoraussetzungen der Wissenschaftlichkeit erfüllt (man weiß kaum, ob es sich bei den Betreffenden nur um gestresste und dadurch vergessliche ältere Menschen oder um tatsächliche Alzheimerkranke gehandelt hat, die Zahl 10 ist für eine solche Untersuchung lächerlich gering, Wiederholungen gab es offenbar nicht (um die Ergebnisse zu reproduzieren), die Besserung wurde von den subjektiven Aussagen der Betroffenen abgeleitet usf.)***

Aber weil es auf der Welt kaum einen Alzheimerpatienten geben dürfte, der nicht irgendwann zuviel Süßes oder Fettes gegessen, zu wenig Bewegung gemacht, zu viel Alkohol getrunken oder Zigaretten geraucht hat (oder vielleicht einsam war und gestresst), passt das Erklärungsmodell von Nehls auf alle und jeden. Und genau deshalb ist dessen Aussagewert auch gleich null, es stellt schlicht die Tatsache fest, dass man sich gesund ernähren und nicht übergewichtig sein sollte, dass Bewegung und genügend Schlaf wichtig ist und Stress oder exzessiver Alkoholkonsum nichts Erstrebenswertes darstellen. Welch Weisheit. Das Ärgerliche an solchen Elaboraten ist die Scheinheiligkeit der Apostel: Es geht ihnen – genauso wie der (zu Recht) kritisierten Pharmaindustrie – um den finanziellen Erfolg. Globuli sind ein millionenschweres Geschäftsmodell (und diejenigen, die an diesem ganzen homöopathischen Schwachsinn verdienen, hüten sich zumeist, im Ernstfall auf ihre Wundermittelchen zurückzugreifen), Abwehrmittel gegen Erd- oder sonstige Strahlen genauso wie esoterischen Entgiftungskuren (die Nehls auch bewirbt) – und überteuerte Krebsmedikamente der Pharmariesen. Hier aber wird denjenigen das Geld aus der Tasche gezogen, die aufgrund ihrer verzweifelten Situation sich an jeden erreichbaren Strohhalm klammern. Und – besonders perfide – es wird den Betroffenen suggeriert, dass sie an ihrem Leid selbst Schuld hätten: Es wäre verhindert worden, wenn sie nur rechtzeitig gehört hätten. Die Erkenntnis, dass man nicht tagtäglich besoffen, übergewichtig und qualmend seine Zeit vor dem Fernsehapparat verbringen sollte, bedarf aber nicht der Bestätigung durch ein überflüssiges Buch. Und Trivialitäten bezüglich einer gesunden Lebensführung sind alles, was man hier erfährt: Ab in die Papiermülltonne.


*) So ist er auch Herausgeber eines „Anti-Alzheimer-Kochbuches“, das Versilbern von Ideen scheint er aus seinem Vorleben als Pharma-Manager in die neue, heile Welt der alternativen Medizin herübergerettet zu haben.


**) Und warum behauptet er solchen Unsinn? Um der recht plausiblen These, dass das höhere Durchschnittsalter für die vermehrten Alzheimerfälle u. a. verantwortlich sind, ad absurdum zu führen. Absurd aber sind zumeist nur seine Behauptungen.


***) Die Studie fand 2004 statt. Trotz ihres „enormen“ Erfolges sah sich offenbar weder Bredesen noch irgendjemand sonst bislang veranlasst, sie zu wiederholen (Nehls spricht davon, dass diese nun geplant seien).


Dr. med. Michael Nehls: Alzheimer ist heilbar. München: Heyne 2015,2017.

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