Maria Sybilla Merian stammte aus der jüngeren Frankfurter Linie des ursprünglich Basler Geschlechts der Merian. Die Merian gehörten in Basel zum sogenannten „Daigg“ – der sozialen und ökonomischen Führungsschicht der Stadt. Einige davon waren auch als Künstler bekannt geworden, als Maler, Kupferstecher und Verleger. Die Frankfurter Linie war begründet worden durch Maria Sybillas Vater Matthäus Merian (genannt „der Ältere“, da sein Sohn den gleichen Namen trug und das Geschäft fortführte), einem Maler und Verleger. Der starb allerdings, als Maria Sybilla drei Jahre alt war. Ihr Stiefvater förderte ihre künstlerisch-gestalterischen Ambitionen und gab sie bei einem Stillleben-Maler in die Schule. Es war an und für sich in der damaligen Zeit nicht ungewöhnlich, dass in Handwerker-Familien auch die Töchter das väterliche Handwerk erlernten. Es war eine Zeit, wo Handwerks-Betrieb und Familie praktisch identisch waren. Jede helfende Hand war willkommen; auch wusste man ja nicht, ob nicht zuletzt eine Tochter als einzige übrig bleiben würde, um den Betrieb aufrecht zu erhalten und den alten Vater mit zu ernähren.
Schon ungewöhnlicher war Maria Sybillas ‚Hobby‘: Nach ihren eigenen Zeugnissen begann sie sich schon im Alter von etwa 11 Jahren für Insekten zu interessieren – genauer für Schmetterlinge. Sie sammelte Raupen und verfolgte deren Verpuppung. So ordnete sie schon früh nicht nur die jeweilige Raupe dem jeweiligen Schmetterling zu, sie erkannte auch, dass durchaus nicht jede Raupe von jedem Strauch oder Baum frass. Doch zunächst sah es bei Maria Sybilla nicht nach einer irgendwie aussergewöhnlichen Karriere aus. Sie heiratete Johann Andreas Graff, der aus dem gleichen Business stammte, wie ihr Stiefvater. Wäre sie von Adel gewesen, würden wir von einer dynastischen Ehe sprechen – es war eine Geschäfts- und nicht eine Liebesbeziehung.
Im Folgenden wird die Biografie der Maria Sybilla Merian etwas unscharf. Der Ehe entsprangen – im Abstand von 10 Jahren – zwei Töchter. Irgendwann trennte sie sich von Graff und ging mit ihren beiden Töchtern ins niederländische Friesland. Dort schloss sie sich einer Gruppe von ‚Labadinisten‘ an, einer proto-pietistischen Sekte, der unterdessen auch ihre Mutter angehörte. Ihre Stellung in dieser Sekte ist nicht so ganz klar. Sie muss sich in dieser moralisch engen und gleichzeitig schwärmerischen Umgebung fremd gefühlt haben. Vielleicht bot für sie der Anschluss an diese Sekte einfach den Vorteil, dass sie sich von Graff als geschieden betrachten konnte, denn diesem, der der Sekte nicht beitrat, blieben deren Türen buchstäblich verschlossen.
Maria Sybilla aber verliess nach dem Tod ihrer Mutter Friesland, zusammen mit ihren beiden Töchtern. Allerdings scheint sie sich Zeit ihres Lebens der Sekte angehörig gefühlt zu haben. Sie liess sich in Amsterdam nieder, wo sie sich im damaligen Gewimmel von Künstlern, Kunstliebhabern, aber auch naturwissenschaftlichen Dilettanten und Sammlern (alles auch schon mal in einer einzigen Person versammelt!) in ihrem Element wieder fand. Sie führte nun ihre eigene „Firma“. Mit der Hilfe ihrer Töchter, die sie ebenfalls als Malerinnen und Kupferstecherinnen hatte ausbilden lassen, zog sie einen recht erfolgreichen Handel mit ihren eigenen Grafiken auf – Grafiken, die Stillleben ebenso umfassten wie Bilder von Schmetterlingen mit ihren Raupen auf den jeweiligen Fressgewächsen. Aus den niederländischen Kolonien, v.a. aus Surinam, trafen immer wieder Exemplare der dort einheimischen Fauna und Flora in Amsterdam ein. Diese gefielen Maria Sybilla ausnehmend, und eines Tages beschloss sie, das Angebot ihrer „Firma“ um einen einzigartigen Artikel zu erweitern: kolorierte Kupferstiche von exotischen Schmetterlingen. Sie reiste nach Surinam (wo sich übrigens auch eine Kolonie der Labadinisten befand, die sie besuchte), um diese Insekten vor Ort studieren und zeichnen zu können.
Merians Aufenthalt in Surinam war recht kurz (1½ Jahre), kürzer als geplant, was dem Umstand zuzuschreiben war, dass die unterdessen über 50 Jahre alte Frau die Anstrengungen und Anforderungen eines Lebens in den Tropen unterschätzt hatte. Sie erkrankte (man vermutet heute: an einer harmlosen Form von Malaria) und kehrte nach Amsterdam zurück. In ihrem Gepäck aber befanden sich Zeichnungen und Sammlungen von Schmetterlingen, die sie nun auszuführen und in Kupfer zu stechen begann – immer mit der Hilfe ihrer beiden Töchter. Das Resultat nannte sich Metamorphosis insectorum Surinamensium (Verwandlung der surinamesischen Insekten) und erschien 1705. Die wenigen überlebenden Exemplare dieses Buchs sind allesamt Unikate, da jedes von Hand koloriert worden war.
Vor mir liegt – oder besser gesagt: steht, denn das Buch ist riesig – eine Reproduktion des Exemplars der Königlichen Bibliothek in Den Haag. Diese Reproduktion erschien auf Deutsch zunächst bei Insel, dann 2017 bei Lambert Schneider, einem Imprint der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Es enthält neben einem Faksimile des Originals verschiedene Aufsätze von renommierten Wissenschaftern zu solchen Themen wie dem Phänomen von Naturforschung und Reisen zur Zeit Merians, dem Leben der Maria Sybilla Merian, ihrem Netzwerk von sammelnden Naturliebhabern in Amsterdam, der hinter Merians Bildern stehenden Biologie, den Produktionsbedingungen dieses Buchs. Dazu neben dem Faksimile die Übersetzung ins Deutsche von Merians Begleittext, die Geschichte der noch ‚überlebenden‘ Exemplare des Buchs und eine wissenschaftliche Bestimmung der von Merian abgezeichneten Pflanzen und Insekten nach heutigem Maßstab.
Die Bilder sind in ihrer Originalgrösse reproduziert und in diesem Format schlicht grossartig. Der Text von Merian bietet die eine oder anderer Überraschung. Nicht nur, dass sie den einzig auf den Anbau von Zuckerrohr fixierten weissen Kolonialisten andere Pflanzen zum Anbau (und zum Export) empfiehlt, wie die Ananas, die Banane oder die Süsskartoffel. Es schimmert auch immer wieder durch, dass es Merian offenbar gelungen war, ein Vertrauensverhältnis zu ihren dunkelhäutigen Dienern aufzubauen. Diese waren für sie unerlässlich nicht nur als Informanten über gewisse Tiere; sie waren ihr auch physisch notwendig, da sie alleine nicht die Kraft gehabt hätte, sich mit der Machete einen Weg in den Dschungel zu schlagen, wo sie auf Schmetterlings-Jagd ging. Und wenn sie bei einer Pflanze hinzu schreibt, dass die schwarzen Frauen deren Saft benutzten, um ihre Kinder abzutreiben, da sie keine Sklaven gebären wollten, so sieht man nicht nur, wie gross das Vertrauen dieser Leute offenbar war, man sieht auch in der lakonischen Art, wie Merian diese Aussage unkommentiert wiedergibt, wie sich die eigentlich einer moralisch engherzigen Sekte angehörende Frau einen weiten Horizont angeeignet hatte, der sie – wenn nicht verstehen – so doch akzeptieren liess, was sie hörte und sah.
Alles in allem in ein seiner Schönheit und seiner Grösse sehr faszinierendes und interessantes Buch.
PS. Das oft kolportiere „Armengrab“, in das man Maria Sybilla nach ihrem Tod geworfen haben soll, stimmt ziemlich sicher nicht. Wohl hatte sich das Geschäft mit den Bildern exotischer Schmetterlinge nicht ganz so rentiert, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aber ganz verarmt und von Freunden verlassen war sie bis zum Schluss nicht.