In Buch 50 haben wir Octavius verlassen, wie er nach der gewonnenen Seeschlacht von Actium de facto Alleinherrscher des Römischen Reichs geworden war. Im ersten Buch des Bandes IV, also Buch 51, räumt er, wenn man so sagen will, noch die Reste weg. Er bringt Ägypten definitiv unter seine Kontrolle; Marc Anton und Kleopatra begehen in einer aussichtslosen Situation Selbstmord.
Damit ist auch das Interesse des Cassius Dio an den beiden erloschen. Das folgende Buch 52 ist das vielleicht zentralste des ganzen Werks. Octavius, so Cassius Dio, überlegt sich, die Leitung der Staatsgeschäfte [wieder – P. H.] dem Senat und Volk zu übertragen. Bevor er das tut, unterbreitet er seine Idee aber noch seinen beiden engsten Beratern, Agrippa und Maecenas. Es folgen die Reden der beiden, die das ganze Buch 52 füllen. Zuerst spricht Agrippa, und er plädiert dafür, dass Octavius tatsächlich seinen Plan ausführt. Dann folgt, in einer noch längeren, noch ausführlicheren Rede, Maecenas. Der wiederum hält es für eine schlechte Idee von Octavius, sich ins Privatleben zurückziehen zu wollen, und weist in seiner langen Rede die Nachteile sowohl für Octavius als Person wie für den Römischen Staat auf. Die beiden Berater gab es tatsächlich; ob es diese Beratung gab, kann angezweifelt werden; ob, wenn es sie in einer auch nur entfernten Form gegeben haben sollte, Maecenas wirklich eine derart lange Rede gehalten hat, ebenso. (Historisch gesichert ist nicht nur, dass es beide Gestalten gab. Vor allem von Maecenas wissen wir, dass er ein von Octavius sehr geschätzter politischer Berater war: loyal und ohne eigenen Ehrgeiz, was die Ausübung von politischer Macht betraf, dabei aber immer offen und aufrichtig. Tatsächlich sogar ein geschickter Berater: Historisch gesichert ist, dass Gaius Maecenas eine wichtige Rolle bei der Konsolidierung des Prinzipats spielte, in das Octavius den Römischen Staat nun umwandelte, immer unter nomineller Beibehaltung des Titels einer Demokratie. Ebenfalls ist gesichert, dass Maecenas ein großer Förderer der Künste war. Er unterstützte unter anderen Horaz, Vergil und Properz. Das bis heute verwendete Wort „Mäzen“ ist von seiner Person und dieser Tätigkeit abgeleitet.) Es ist aber sicher, dass die staatsmännischen Prinzipien, die Maecenas in seiner Rede entwickelt, die des Cassius Dio gewesen sind – seine Idealvorstellung eines Römischen Kaisers, der zwar letztendlich alleine entscheidet, aber vorgängig immer den Senat konsultiert.
Es folgen die Jahre der Konsolidierung und Ausbreitung des Römischen Reichs. Augustus, wie Octavian nun genannt wurde (nur Cassius Dio bleibt bei Caesar), folgte dem (fiktiven) Rat seines Beraters Maecenas. Er herrscht so runde 44 Jahre – Jahre, die unter die besten der Römischen Republik gezählt wurden und werden. Er wurde dabei 77 Jahre alt, und überlebte ein paar seiner designierten Nachfolger, so den beim Volk und den Soldaten äußerst beliebten Germanicus. Der starb noch vor Augustus (angeblich durch Giftmord), was schlussendlich den bedeutend weniger beliebten Tiberius auf den Thron hievte. Vor allem in den Kreisen der Senatoren hatte Tiberius auch noch nach seinem Tod einen schlechten Ruf – was weniger daran lag, dass er tatsächlich Germanicus vergiften lassen hätte, sondern vor allem daran, dass er den fiktiven Rat des adoptiv-väterlichen Beraters Maecenas in den Wind schlug und sich in seinen Regierungsgeschäften kaum um den Senat kümmerte. Germanicus hätte postum noch den Ruhm ernten dürfen, dass zumindest sein Sohn (als Nachfolger des Tiberius) auf den Thron kam – wenn dieser Sohn nicht der erste in einer langen Reihe von grausamen und psychisch offenbar sehr labilen Herrschern gewesen wäre: Caligula, das Soldatenstiefelchen. Mit der Übernahme des Prinzipats durch Claudius in Buch 60 endet Band IV.
Den einen oder anderen kurzen Ausblick auf zukünftige Kaiser erlaubt sich der Autor. Wie immer bei Cassius Dio werden noch in der Regierungszeit des Vorgängers der oder die Nachfolger in Stellung gebracht, und so finden wir einen Galba, einen Vitellius oder einen Vespasian bereits in der Zeit von Tiberius oder Claudius erwähnt. Die eigentliche Regierungszeit des Claudius ist aber mit Buch 60, dem letzten von Band IV, noch nicht erreicht, Cassius Dios Urteil über ihn noch nicht gefällt.
Zur Überlieferung: In den Büchern 51 bis 60 finden wir bereits wieder die eine oder andere Lücke, die durch Zeugnisse byzantinischer Ausschreiber gefüllt werden müssen. Buch 60 ist das letzte einigermaßen vollständig erhaltene Buch der Römischen Geschichte von Cassius Dio. Die restlichen 20 Bücher werden Band V meiner Ausgabe füllen:
Cassius Dio: Römische Geschichte. Übersetzt von Otto Veh. Düsseldorf: Artemis & Winkler, 2009