Götz Aly: Europa gegen die Juden 1880 – 1945

Der Autor ist mit zahlreichen Publikationen über die NS-Zeit bzw. über das Judentum an sich an die Öffentlichkeit getreten. In diesem Buch untersucht er die Voraussetzungen, die in Europa schließlich zum Holocaust und der industriellen Ermordung der Juden führte.

Dabei wird deutlich, dass der Antisemitismus im angegebenen Zeitraum in praktisch jedem europäischen Land virulent war. Wobei das eine Folge des allgemein im 19. Jahrhundert entstandenen Nationalismus war, der zum ersten Mal in der Geschichte auf „ethnisch reine“ Staatsgebiete rekurrierte (und so wurden zwar überall die Juden verfolgt, aber auch die in einem Land befindlichen, jeweiligen Minderheiten). Und es entwickelte sich die Vorstellung, dass die ethnische Homogenität eine Voraussetzung für den Frieden, ihr Gegenteil aber zu Krieg und Auseinandersetzungen führen würde (Annahmen, die eine für den Nationalismus typisch verkürzte Sicht der Dinge darstellen und von der Historie selbst widerlegt wurden).

Der ultimative Sündenfall einer solchen Politik war der erste, große Bevölkerungsausstausch zwischen Griechenland und der Türkei nach dem Ersten Weltkrieg: Auch hier wurden keine Probleme gelöst, aber ein Präzedenzfall geschaffen, an dem sich viele andere Staaten interessiert zeigten. Bei all dem hatten Juden natürlich die schlechtesten Karten, da sie in kein Heimatland abgeschoben werden konnten. Dazu kam, dass in fast allen Ländern die autochthone Bevölkerung gegenüber den Juden einen gehörigen Bildungsrückstand aufzuholen hatte, der über die Jahrhunderte durch diverse gesetzliche Maßnahmen entstanden war: So waren ihnen teilweise der Landerwerb verboten und zahlreiche andere Berufe, wodurch sie sich insbesondere auf den Handel in Städten konzentrieren mussten. Dadurch hatten sie nach Beginn der Industrialisierung einen nicht unerheblichen Startvorteil, der nur ansatzweise durch Bildungsprojekte der einzelnen Staaten ausgeglichen werden konnte (was die Mär vom „schlauen Juden“, der stets wendig und geschickt auf Veränderungen zu reagieren in der Lage wäre, erzeugte).*

Von diesem Antisemitismus kann kein europäisches Land freigesprochen werden: Von Polen, Russland und der Ukraine über Griechenland, Rumänien, Bulgarien und die Balkanstaaten, von Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien bis nach Frankreich, Spanien und Portugal werden Juden – unterschiedlich stark – verfolgt. Vor allem die nach dem Ersten Weltkrieg neugegründeten osteuropäischen Nationalstaaten (und auch das kommunistische Russland) erlassen zahlreiche Gesetze und Verordnungen, die einerseits die Ausbildung der jüdischen Bevölkerung unterbinden, andererseits die wirtschaftlichen Aktivitäten unterbinden sollen. Und je weiter östlich man sich befindet, desto größer ist die Gefahr von Pogromen (etwa in Litauen, Russland, der Ukraine und Polen – im übrigen auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg). Dieser stellte nicht nur für Deutschland die „Chance“ dar, sich des Judenproblems auf gewaltsame und mörderische Weise zu entledigen, sondern wurde auch von zahlreichen anderen Ländern genutzt, um ihr „Judenproblem“ zu lösen. Wirklich auf Widerstand (vor allem noch während der Zeit der großen deutschen Kriegserfolge) stieß man bei der Deportation nur in Belgien und Dänemark (wobei ich überrascht war, dass Aly die als legendär bekannte Geschichte von König Christian X., der angeblich angekündigt hätte, auch den Judenstern tragen zu wollen, als historisches Faktum verkauft**).

Die Schilderungen von Pogromen, von den zahlreichen Gräueltaten vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg waren für mich manchmal zu eingehend (aber das darf kein Kritikpunkt sein, wenn jemand ein Buch zu dieser Thematik wählt). Das für mich Beunruhigendste, Erschütterndste waren aber nicht diese mittlerweile oft und genau dokumentierten Scheußlichkeiten, sondern das durch keinerlei „Ängste vor dem Regime“ noch zu bemäntelnde Verhalten nach dem Krieg: Wenn man das angeeignete Vermögen der – leider nicht im Gas umgekommen Juden – frech als seinen Besitz bezeichnete, man auf diesen Raub glaubte Anspruch erheben zu können (und dies auch tat und häufig noch von den Behörden unterstützt wurde). Hier zählt die Ausrede von der Gefahr längst nicht mehr (Gefahr bestand einzig für die zurückgekehrten Juden – wie etwa in Polen), hier kommt noch einmal und rein jene Grundhaltung zum Ausdruck, die den Holocaust erst ermöglicht hat. Natürlich hat der Krieg – wie von Aly beschrieben – den idealen Hintergrund für Deportation und Mord gebildet (selbst Goebbels sprach davon, dass viele dieser Dinge in Friedenszeiten nicht möglich wären), aber die grundlegende Einstellung zu den Juden hatte sich keineswegs geändert. (Ist sie überhaupt – heute – anders geworden? Manchmal will ich das glauben, will glauben, dass derlei Dinge nicht mehr möglich wären. Und dann muss ich von „ganz normalen Bürgern“ hören, dass man doch die ganzen Flüchtlinge vor der lybischen Küste ersaufen lassen solle – als Abschreckung. Und nicht noch Rettungsboote entsenden solle. Dann würde sich das ganze Flüchtlingsproblem alsbald in Luft (bzw. im Wasser) auflösen.)

Das Buch hat (leider) eine sehr aktuelle Note und es empfiehlt sich, die Argumentationen der historischen Antisemiten genau zu lesen: Man entdeckt darin Aktualitäten, auf die man lieber verzichten würde. Insofern kann es durchaus empfohlen werden. Was mir – vorsichtig ausgedrückt – seltsam erscheinen wollte, war das immer wieder propagierte Klischee vom „schlauen Juden“. Denn dies ist nur ein Vorurteil (unter vielen anderen), mit dem antisemitische Haltungen begründet werden.


*) An diesem Märchen strickt auch Aly weiter, indem er auf die Ursachen des ökonomischen Erfolgs nicht weiter eingeht und unreflektiert die Texte von Antisemiten (die auf diese „Schläue“ Bezug nehmen für den notwendigen Ausschluss der Juden aus vielen Bereichen der Wirtschaft) zitiert. Implizit scheint er auch eine jüdische „Rasse“ vorauszusetzen, was nicht nur historisch sondern auch wissenschaftlich vollkommener Nonsens ist.


**) So etwas beunruhigt mich: Denn man kann die Quellen eines Buches bestenfalls in Ansätzen überprüfen. Wenn sich aber ein so offenkundiger Fehler einschleichen kann, wird mein Vertrauen in den Autor schon ein wenig erschüttert.


Götz Aly: Europa gegen die Juden 1880 – 1945. Frankfurt a. M.: Fischer 2017.

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