Ece Temelkuran: Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist

Temelkuran schildert am Beispiel ihres Heimatlandes Türkei das Abgleiten eines Staates in eine Autokratie, in der die meisten Rechte nur noch auf dem Papier bestehen und freie Meinungsäußerung zu einer Gefahr für Leib und Leben des Betreffenden werden. Sie selbst musste aus ihrer Heimat flüchten und lebt derzeit in Kroatien.

In sieben Kapiteln versuchte die Autorin diesen Weg nachzuzeichnen, eine Art Anleitung in „sieben Schritten für jeden Möchte-Gern-Diktator“, die ihm die Durchführung eines solchen Programmes erleichtern sollen. Das klingt nach einer gut strukturierten Analyse, verliert sich aber – je länger je mehr – in einer Aufzählung von Symptomen autokratischer Herrschaftsmerkmalen, die von den zahlreichen persönlichen Erfahrungen Temelkurans untermalt werden. Unter dieser unstrukturierten Herangehensweise leidet das Buch (zumal in der zweiten Hälfte), trotzdem gibt es nur wenig, bei dem man der Autorin nicht zustimmen könnte, einiges schiene ergänzenswert.

„Gründen Sie eine Bewegung“ lautet der Titel des ersten Abschnitts. Wobei das Wort „Bewegung“ hierbei wichtig ist und tatsächlich gibt es in zahlreichen Ländern solche Bewegungen (und wenn es zuvor Parteien waren, werden sie dazu: Eine „Liste Kurz“ in Österreich, das inhaltslose „En Marche“ von Macron), die sich von etablierten Parteien abzugrenzen versuchen und vor allem vorgeben, das Volk zu vertreten. Wobei dieser Begriff des „Volkes“ keinerlei Definition erfährt (auch nicht erfahren darf), es ist zumeist eine Gruppe von Zukurzgekommenen, die der festen Überzeugung sind, dass es bloß der Reaktivierung alter Werte bedürfe, um das Land zu altem Glanz zu führen (selbst wenn es einen solchen Glanz nie gegeben hat). In einem solchen Umfeld glauben sie dann jene ihnen zustehende Anerkennung zu erfahren, die sie – aus welchem Grund auch immer – verdient hätten. Solches zu versprechen ist leicht (man verspricht dabei eigentlich gar nichts, sondern vermittelt nur das Gefühl, dass die Zukunft irgendetwas Positives bringen werde) – und während man auf dem Weg in diese Zukunft ist, hat man wenigstens eine Art von Gemeinschaftsgefühl, Gemeinschaftsglück, denn diejenigen, die sich ungerecht behandelt fühlen, sind allemal Legion.

In diesem Prozess werden für selbstverständlich empfundene Werte sukzessive ignoriert (Trump ist hier das beste Beispiel): Zum einen demonstriert man eine Schamlosigkeit und Unverfrorenheit, die noch vor einigen Jahrzehnten in dieser Offenheit nicht denkbar war, zum anderen tritt man die Vernunft mit Füßen, erklärt rationale Argumente, die Rationalität selbst zu einer Beliebigkeit (und setzt im Grunde mit dem Postfaktischen nur das fort, was dümmlich-arrogante Intellektuelle (bzw. was sich so dafür hält) zuvor mit Postmoderne oder Poststrukturalismus begonnen hatten). Gezielte Grenzüberschreitungen höhlen dabei das Gefühl des Einzelnen für das noch Sagbare aus: Schließlich kann man den größten Unsinn behaupten, moralisch zutiefst Verächtliches von sich geben – man nimmt irgendwann keine Notiz mehr davon (und wenn’s denn gar zu arg wird, behaupten Anhänger der „Bewegung“, dass doch alle so wären, dies also nichts besonders Verachtenswertes sei und man nicht so kleinlich sein solle).

Und nach einer möglichen Machtübernahme werden schließlich rechtliche und moralische Grundlagen sukzessive abgeschafft, Dinge durchgeführt, die man zuvor nicht für möglich gehalten hätte (und von denen behauptet wurde, dass die politische Verfassung derlei verhindern würde). Aber Verfassungen können verändert werden (wie Polen, Ungarn, die Türkei beweisen) und sind keineswegs ein Garant gegen eine solche Autokratie (schon in Österreich hat der derzeitige Parteivorsitzende der FPÖ in einer unbedachten Sekunde verlauten lassen, dass „sie sich noch wundern werden, was alles möglich ist“). Temelkuran beschreibt diese Schritte natürlich hauptsächlich anhand des politischen Aufstiegs von Erdogan, aber sie zieht zu Recht Vergleiche zu Trump, Farage, der AFD oder Orban. Und auch wenn der Rechtspopulismus offenbar gefährlicher ist als der von links, so erwähnt sie auch die Protagonisten der anderen Seite: Evo Morales oder Hugo Chávez, die sich genau derselben Methoden bedienten. (Warum ausgerechnet Jeremy Corbyn implizit für seine Politik gelobt wird, bleibt das Geheimnis der Autorin: Denn dieser weitgehend rückgratlose Dummkopf trägt mindestens so viel Schuld an dem Brexit-Chaos wie die Konservativen. Er ist das beste Beispiel dafür, dass linker Populismus an Dämlichkeit dem rechten gleichkommt und hat mit dem Brexit nicht aus nationalistischen, sondern klassenkämpferischen Gründen geliebäugelt).

Ist man erstmal an der Macht, erklärt man all jene, die die „Bewegung“ nicht unterstützen, zu Staatsfeinden und Terroristen, und erlässt nach Gleichschaltung der öffentlichen Medien die entsprechenden Gesetze, die eine Kritik am Staatspräsidenten mit Majestätsbeleidigung gleichstellt, überhaupt jedwede Kritik als umstürzlerisch und damit terroristisch brandmarkt. Am Ende eines solchen Weges steht dann nur noch Verwunderung ob des blanken Hohns, der einem von den Regierungen entgegenschlägt (Temelkuran erwähnt etwa den Tweet Trumps, dass „in den USA noch nie so viel für Kinder gemacht worden wäre“ zwei Tage nachdem mexikanische Kleinkinder von ihren Eltern getrennt vor Gericht aussagen sollten). Die Worte haben sich längst von der Wirklichkeit entkoppelt, der Staat hat längst mafiöse Strukturen angenommen (wie in Ungarn, der Türkei), wo es für den wirtschaftlichen Erfolg einzig von Belang ist, ob man einen Draht zu einflussreichen Regierungsbeamten besitzt. Temelkuran warnt davor, dieses ganze wahnwitzige Verhalten von Präsidenten (wenn man etwa die lächerliche Figur Erdogans sich ansieht, der in seinem Benehmen einem verunsicherten, hormongesteuerten jugendlichen Bandenchef gleicht, in Österreich fühlt man sich natürlich an den Macho-Auftritt des ehemaligen Vizekanzlers erinnert, über den man müde lächeln könnte wie über eine Folge Reality-TV, wenn’s nicht so ernst wäre) und Regierungen allzu lange mit Lachen zu bedenken, da einem dasselbe alsbald im Halse stecken bleiben könnte. Aber selbstverständlich weiß auch sie keinen Weg, wie man diesem ganzen Wahnsinn Herr werden könnte: Wie will man jemanden überzeugen, der jedwede logische Argumentation verachtet und schamlos auf Lügen beharrt, auch wenn sie sich längst als solche herausgestellt haben.

„Ist das noch mein Land?“ fragt sie sich gegen Ende des Buches. Die Frage (die so teilweise auch in den USA gestellt wird) mutet für mich seltsam an, weil sie einerseits implizert, dass es so etwas wie „mein Land“ gibt und andererseits unterstellt, dass es früher doch viel besser gewesen sei. Letzteres mag teilweise stimmen, man sollte aber bedenken, dass etwa die Menschen in den USA zwischen Obama und Trump nicht ausgewechselt wurden. Und die Menschen sind dieses Land – und sie werden sich so sehr kaum geändert haben. Da scheint vielmehr etwas prinzipiell im Argen zu liegen – mit diesem Homo sapiens (ein Epitheton, das mehr als fragwürdig geworden ist, weil es ja die Art – nach Linné – charakterisieren sollte).


Ece Temelkuran: Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist. Sieben Schritte in die Diktatur. Hamburg: Hoffmann und Campe 2019.

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