Michel de Montaigne: Tagebuch einer Badereise

1580 beschloss Montaigne, der an häufigen, durch Nierensteine verursachten Koliken litt, seinem Leiden durch eine ausgedehnte Badereise ein für alle Mal den Garaus zu machen. Er hatte sich diese Badereise selber verschrieben; Ärzten misstraute er. (In Anbetracht des damaligen medizinischen Wissensstandes und der Ausbildung der sog. „Ärzte“ wohl zu Recht.) Ein weiterer Antrieb dafür, eine solche Reise zu unternehmen, war Montaignes Wissbegierde, seine Neugier auf bisher Unbekanntes – Leute, Regionen, Essen oder auch allgemein lokale Sitten und Bräuche. Deswegen nahm er auch nicht den geraden Weg in die anvisierten Bäder, sondern beschrieb einen ziemlichen „Umweg“. Rund zwei Jahre war er unterwegs. Seine Reise begann in der Nähe von Paris; sie führte ihn übers Elsass nach Basel und Baden (wo er ein paar Tage Halt machte, um das dortige berühmte Bad zu nutzen, das er auch in höchsten Tönen lobte). Von dort ging es mit einem Umweg über Schaffhausen, Augsburg und München dann endlich über die Alpen in die Republik Venedig – mit dem obligaten Abstecher in die Stadt Venedig selber natürlich, die ihn aber enttäuschte, roch sie doch nicht sehr angenehm. Eine Zeitlang reiste er kreuz und quer in dem, was wir heute „Italien“ nennen, und was damals entweder zum Deutschen Reich gehörte, zur Republik Venedig oder zum Kirchenstaat. Der gläubige Katholik Montaigne ließ es sich natürlich nicht nehmen, auch Rom und den Papst zu besuchen. Zurück ging es über Florenz, Mailand und Lyon – und zurückkehren musste Montaigne, erfuhr er doch gegen Ende der Reise, dass er zum Bürgermeister der Stadt Bordeaux ernannt worden war und nun sein Amt antreten sollte. (Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Er hatte es dennoch nicht eilig mit der Heimfahrt auf sein Gut Montaigne.)

Lange Zeit wusste man aus Montaignes Essais, dass er diese Reise gemacht hatte, und dass er wohl auch auf der Reise Tagebuch geführt hatte. Das Tagebuch selber aber war 178 Jahre lang verschollen, bis man es zufällig in einer alten Kiste fand. Man schrieb es ab. Keine leichte Aufgabe in Anbetracht der Tatsache, dass Montaigne, der den zweiten Teil selber schrieb (die erste Hälfte diktierte er einem Schreiber), offenbar eine fürchterliche Klaue hatte und wenig von Orthographie hielt. Das Original wurde in der damaligen Königlichen Bibliothek abgelegt – aus der es schon bald wieder verschwunden war. Bis heute kennt man seinen Aufenthaltsort – wenn es überhaupt noch existiert – nicht mehr.

Das Tagebuch ist im Großen und Ganzen genau dieses: ein Tagebuch, ein Auflistung der Orte, an denen man Halt machte; der Gasthöfe, in denen man aß, inklusive einer Auflistung der Mahlzeiten. (Es gab meistens Fleisch und als Beilage Fisch. Manchmal gab es auch Fisch und als Beilage Fleisch. Wenn es Saucen gab, wurde das extra vermerkt. Andere Beilagen schien man nirgends auf der Reise erhalten zu haben.) Der Wein wurde von Montaigne jedes Mal separat aufgeführt und beurteilt. Unser Autor mochte den servierten Wein eigentlich fast immer, aber die Wirte hatten wohl für den vornehmen Gast auch immer die besten Gewächse der Region hervorgesucht… Die Art, wie die Betten in den Gasthöfen erstellt wurden, waren unserem Reisenden immer wieder Bemerkungen wert (vor allem, dass der Betthimmel, auf den er als Franzose so großen Wert legte, offenbar bereits in der Schweiz unbekannt war, irritierte ihn beträchtlich). Tischtücher und Servietten interessierten ihn (gab es überhaupt welche? falls ja: aus welchem Material waren sie? wie oft wurden sie gewechselt bei längerem Aufenthalt?) Aus welchem Material waren die Becher und die Teller bei Tisch? Das Besteck (so es welches gab)? Das klingt zunächst einmal recht langweilig, und wurde von vielen Lesern auch so empfunden (Melchior Grimm nannte den Text: ein trockenes, kaltes Verzeichnis von Reisestationen).

Aber wir können viel lernen über das Reisen im 16. Jahrhundert im Allgemeinen, über Montaigne im Besonderen. Im Besonderen: Montaignes Neugier. Bei jeder Reisestation suchte er das Gespräch mit den lokalen Geistlichen, vor allem den verschiedenen Protestanten, die sich unter Umständen in der gleichen Stadt nebeneinander tummelten. Er versuchte von ihnen die Unterschiede zu erfahren, die z.B. in der Lehre der Gegenwart Gottes beim Abendmahl herrschten. (Und er fand heraus, dass die meisten dieser Geistlichen ungefähr alles aus ihrer theologischen Ausbildung bereits wieder vergessen hatten – manchmal sogar ihr Latein, was Montaigne speziell irritierte, hatte er doch auf Grund einer seltsamen Erziehungsmaßnahme seines Vater als Kind Latein sprechen gelernt, lange bevor er Französisch lernte!) Er wohnte Gottesdiensten der verschiedenen Religionen bei, sogar einem jüdischen. (Auch bei einer rituellen Beschneidung in Rom schaute er zu!) Es ist das reiche Deutschland aus der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg, das Montaigne kennen lernt; dieser Krieg, der Deutschland so ganz und gar ruinieren sollte, stand noch in den Sternen. Seltsamerweise war 1580, als in Frankreich bereits die Hugenottenkriege wüteten, eine gegenseitige Toleranz zwischen Katholiken und Protestanten im Deutschen Reich wie im Kirchenstaat jedenfalls im Alltag durchaus und jederzeit anzutreffen.

Neben seiner theologischen Neugier will Montaigne auch immer sein Wissen über die lokalen Bibliotheken und deren Bestand an antiker Literatur befriedigen. (Autoren und Künstler seiner eigenen Epoche hingegen interessieren ihn kaum. Er erwähnt ein einziges Mal ein Gemälde von Michelangelo, und keinen der zeitgenössischen Humanisten, die er hätte besuchen können. Ein altes Exemplar von Boccaccios Decamerone, auf das er stößt, findet er hingegen dann schon einer Erwähnung wert.) Gärten besucht er regelmäßig; aber wenn er darüber zu berichten weiß, dann nur, falls dort eine jener hydraulischen Wundermaschinen errichtet wurde, die es dem Hausherrn erlaubte, aus versteckt angebrachten Düsen den Damen und Herren, die den Garten visitierten, von unten her Wasser zwischen die Beine zu spritzen.

Sein eigentliches Reiseziel, die Besserung seiner Nierenkoliken, nimmt natürlich ebenfalls großen Raum ein. Montaigne badet allerorten und trinkt auch das Wasser der jeweiligen Bäder. Literweise. Genau führt er Buch, wie sich das äußerlich und innerlich angewendete Wasser auf seinen Gesundheitszustand auswirkt. Seinen Urin und seinen Stuhlgang. Seine Koliken, die Steine, die er schon Tage im Voraus spürt, wenn sie seine Rute betreten, um dann irgendwann einmal mit dem Urin ausgeschieden zu werden. Die Blähungen, die ihm das Wasser verursacht. Oder war es doch der Wein? Montaigne ist sich nicht sicher. Seine Migräne, die er in Rom aufliest und nicht mehr los wird. Ein Hypochonder? Jedenfalls auch in dieser Beziehung einer, der es sich zur Gewohnheit gemacht hat, auf die kleinsten Regungen seines Inneren – und seien es seine Eingeweide – zu achten.

In Rom erhält er eine Audienz bei Papst Gregor XIII. und darf dessen rechte Fußspitze küssen. Die Reisenotizen schweigen sich aus über die päpstliche Kalenderreform (die Montaigne nicht mochte). Wichtiger für den Autor war dann, dass die päpstliche Zensur dem Exemplar seiner Essais, das er mitführte, das Imprimatur erteilte. (Es sollte später, nach Montaignes Tod, dennoch auf dem Index landen…)

Rührend die Szene, in er beschreibt, wie er eines Abends plötzlich wieder an seinen vor mehr als einem Vierteljahrhundert verstorbenen Freund Étienne de la Boétie denken muss und nun deshalb den ganzen Abend und den folgenden Tag traurig gestimmt ist.

Alles in allem ist dieses Tagebuch in seiner Spontaneität ein gutes Mittel, den Menschen Montaigne, wie die Epoche, in der er lebte, näher kennen zu lernen.


Michel de Montaigne: Tagebuch einer Badereise. Aus dem Französischen von Otto Flake. Durchgesehen und bearbeitet von Dr. Irma Bühler. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1963.

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