Vor fast 10 Jahren haben wir hier Jane Austens ‚Juvenilia‘ vorgestellt – Texte, die zwischen 1790 und 1794 entstanden, von der Autorin selber aber nie veröffentlicht wurden. Diese Texte blieben meist Fragment und zeigen vor allem die Autorin auf der Suche nach der zu ihr passenden Form. Ihr Thema aber hatte sie schon damals gefunden. Und es war nicht die Liebe; ihre Romane sind keine Romanzen, auch wenn die Liebe eine große Rolle darin spielt.
Sense and Sensibility hat sie um 1795 verfasst, ebenfalls noch keine 20 Jahre alt. Entstanden aus einem früheren, nicht veröffentlichten und jetzt überarbeiteten Briefroman (eine Form, die nicht zu ihr passte, und die sie in Zukunft nie mehr verwenden würde), wurde der Roman allerdings erst 1811 dem Publikum vorgestellt – mit der anonymen Autorenangabe By a Lady, die Austen auch später verwenden würde, als klar war, wer die Lady in Wirklichkeit war.
Im Grunde genommen ist Sense and Sensibility ein Werk des Übergangs. Die sanfte bis bissige Ironie, mit der Austen ihre Figuren in Zukunft bedenken würde, guckt schon hie und da hervor; das Thema, wie gesagt, hatte sie sich schon länger erarbeitet. Aber noch ist die Handlung romantisch verwickelt und völlig unrealistisch.
Nehmen wir als Beispiel dieser unnötigen romantischen Verwicklungen das Schicksal von Edward Ferrars, dem ‚Love Interest‘ der Protagonistin Elinor Dashwood. Komplizierter könnte es kaum sein. Er ist der Bruder … nein, es ist noch komplizierter und wir müssen woanders anfangen:
Der Vater der Protagonistinnen Elinor Dashwood (zu Beginn des Romans gerade mal 19 Jahre alt – so alt also wie die Schreibende selber) und ihrer Schwester Marianne (16½) erbt von seinem Vater das Gut Norland Park. Die Idee (und das gültige Recht) dahinter ist, dass es dann wiederum an den einzigen und deshalb auch ältesten Sohn John geht, damit es dieser wiederum seinem bereits geborenen Sohn vermachen kann. John ist das Kind aus der ersten Ehe des Henry Dashwood, der in neuer Ehe mit seiner zweiten Frau drei Mädchen gezeugt hat. Er ist der Meinung, dass er noch Zeit habe, auch diese Familie mit genügend Geld zu versorgen, stirbt aber bereits ein Jahr nach seinem Vater und hinterlässt eine nach damaligen bürgerlichen Begriffen arme zweite Familie – eine Witwe mit drei Töchtern. John Dashwood ist verheiratet mit Fanny, geborene Ferrars. Deren ältester Bruder Edward wiederum kommt sie besuchen, als sie in Norland Park eingezogen sind (und dabei sehr egoistisch die vier Frauen verdrängten, die dort wohnten). Dabei lernt er Elinor kennen und die beiden verlieben sich in einander. Mit der Zeit stellt sich aber heraus, dass die beiden nicht heiraten können. Einerseits stellt sich die Mutter gegen eine Heirat mit einer ‚armen‘ Frau; andererseits hat Edward in einem Anflug von jugendlicher Dumm- und Verliebtheit einer anderen (Fanny Steele) die Ehe versprochen. Die hält natürlich daran fest, denn Edward ist ein ziemlich reicher Erbe – Geld, das er kriegt, sobald seine Mutter stirbt. Denkt sie. Aber als Mama Ferrars davon erfährt, dass ihr ältester Sohn eine (andere) arme Frau heiraten will, wird er enterbt und an seine Stelle sein jüngerer Bruder Robert gesetzt, von dem man bis anhin nur wenig gehört und gelesen hatte. Fanny hält eine Zeitlang gegen außen an Edward fest, insgeheim hat sie aber Verbindungen zu Robert geknüpft, den sie schließlich davon überzeugen kann, sie zu heiraten. Damit ist Edwards Versprechen hinfällig; er und Elinore können heiraten. Warum aber Fanny ausgerechnet Edwards Bruder heiratet, der zuvor in einem seltsamen Manöver zum Alleinerben gemacht werden muss, und Austen nun vor das Problem stellt, dass sie zu erklären hat, warum Mama Ferrars den zweiten nicht auch enterbt (er sei immer ihr Liebling gewesen – davon hat man vorher nie etwas gehört noch bemerkt), bleibt die große Konstruktionsschwäche dieses Romans. Die Liebesgeschichte zwischen Dashwood-Tochter N° 2 und einem gewissen John Willoughby ist ähnlich verwickelt. Der Roman strotzt von verlassenen Frauen und unehelichen Kindern. Später sollte Austen realistischer werden.
Ihr Thema aber ist schon hier präsent. Nein, nicht die Liebesgeschichten – die braucht sie nur, um ihr Thema zu transportieren. Es ist die Situation der Frau aus gutbürgerlichem Haus. Selber aus der Erbfolge ausgeschlossen – wenn kein Sohn in der Familie vorhanden ist, geht das väterliche Haus und Gut an den nächsten männlichen Verwandten – kennt sie keine andere Möglichkeit als eine Heirat mit einem Mann, der genügend Geld hat für beide. Arbeitende Frauen gab es nur in der Unterklasse (Dienstmädchen, Köchinnen, Wäscherinnen …), nicht im Bürgertum. Allenfalls konnte sie für Kost und Logis bei einer älteren Dame als Gesellschafterin fungieren, aber der Job war prekär, hing von der Laune und der Lebensdauer der älteren Dame ab. Andere endeten – wie übrigens Jane Austen selber auch – als supernumeräres Familienmitglied im Haushalt eines Bruders oder einer Schwester – ein Familienmitglied, das gratis durchgefüttert wurde, von dem man aber erwartete, dass es durch Kinderhüten, Nähen und Sticken zum Funktionieren des Haushalts beitrug. Kein erstrebenswertes Schicksal. Dass deshalb jede Mutter mit allen Mitteln versuchte, für ihre Töchter eine Ehe zu stiften, leuchtet jedem ein (außer Otto Weininger natürlich). Dass viele Männer das ausnützten, ebenfalls. Dass intelligentere Frauen (wie Jane Austen) dies durchschauten, auch. Dass Frauen, die sich eine Sinekure gesichert hatten, mit allem Nachdruck ‚ärmere‘ Frauen von ihren Söhnen fernzuhalten, ist nur menschlich, auch wenn Austen diese Frauen mit scharfer Zunge zensiert. (Aber dann stand sie auch auf der anderen Seite …)
Summa summarum: Austen wird das Schreiben noch besser lernen. Aber bereits ihr erster (veröffentlichter) Roman offeriert großen Lesespaß.